Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ich erwartet, dass Noriyakis Tod Beileidsbekundungen und Verzweiflung im ganzen Lager hervorrufen würde, in ganz Kenia und in der Welt. Doch ich hörte nichts dergleichen. Ich fragte die Krankenschwester, ob es Fernsehberichte über den Unfall gegeben habe. Sie sagte, sie habe keine gesehen. Die humanitären Helfer in Kakuma waren natürlich erschüttert, aber es gab keine weltweite Betroffenheit, keine Nachrufe auf der ersten Seite. Zwei Tage nach seinem letzten Atemzug wurde Noriyakis Leichnam nach Nairobi gebracht, wo er eingeäschert wurde. Ich weiß nicht, warum.
– Was machst du hier?
Ein Mann stand vor mir, sein Gesicht nur eine Silhouette vor dem Sonnenlicht, das durch die niedrigen Fenster fiel. Er trat näher, und es war Abraham, der neue Beine und Arme herstellte. Sofort strömten mir Tränen übers Gesicht. Ich war seit Tagen im Krankenhaus, mal wach, mal schlafend.
– Keine Angst, sagte er. – Deine Gliedmaßen sind intakt. Ich komme als Freund.
Ich versuchte zu sprechen, aber meine Kehle war zu trocken.
– Nicht sprechen, sagte er. – Ich weiß, was mit deinem Kopf ist, welche Medikamente sie dir geben. Ich bleibe einfach nur ein Weilchen hier sitzen.
Und das tat er. Er begann, leise zu singen, das Lied, das er an jenem Tag vor langer Zeit gesummt hatte. Ich schlief wieder ein und sah ihn nicht wieder.
Ich blieb neun Tage im Krankenhaus. Sie untersuchten meinen Kopf, testeten mein Gehör, meine Sehkraft, meine Knochen. Sie nähten meinen Kopf und verbanden meine Gliedmaßen. Ich schlief die meiste Zeit, und während ich von Schmerzmitteln benebelt war, ging Tabitha fort.
Wahrscheinlich wusste ich irgendwo im Hinterkopf, dass dieser Tag rasch näher rückte, aber sicher war ich mir erst, als ich eines Tages nach dem Frühstück einen Brief bekam. Ich weiß nicht, wie es Tabitha gelungen war, im Camp einen rosa Umschlag aufzutreiben, aber irgendwie hatte sie es geschafft. Er roch sogar nach ihr. Der Brief war auf Englisch geschrieben, bestimmt hatte sie einen der kenianischen Schreiblehrer um Hilfe gebeten, damit der Text so fehlerfrei und wortgewandt wie nur möglich ausfiel.
Mein lieber Valentino,
ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich von dem Unfall hörte. Und als ich glaubte, Du wärst am Straßenrand gestorben, war ich am Boden zerstört. Stell Dir meine Freude vor, als sich das als falsch herausstellte, als ich erfuhr, dass Du überlebt hattest und wieder gesund werden würdest. Ich wollte Dich besuchen, aber sie lassen nur Sorgeberechtigte zu Dir. Also wartete ich auf Neuigkeiten über Deinen Zustand und war erleichtert, als ich hörte, dass Du gänzlich genesen wirst. Ich bin so unendlich traurig, dass Noriyaki tot ist. Er war beliebt und kommt gewiss in den Himmel.
Wie Du weißt, konnte mein Abflug nicht warten. Ich diktiere diesen Brief, nur wenige Stunden bevor mein Flugzeug nach Nairobi geht. Mein Herz ist schwer, aber wir wissen beide, dass ich gehen muss. Dieses Lager kann uns nicht sagen, wo wir leben sollen. Ich konnte mir die Gelegenheit, hier rauszukommen, nicht entgehen lassen. Ich weiß, dass Du mich in diesem Punkt verstehst.
Ich werde Dich wiedersehen, mein lieber Valentino. Ich weiß nicht, wie unser Leben in Amerika sein wird, aber ich weiß, dass wir beide Erfolg haben werden. Wenn ich Dich das nächste Mal sehe, fahren wir beide Autos und treffen uns in einem sauberen teuren Restaurant.
Deine Dich liebende Freundin
Tabitha
Um zehn vor sechs drängt ein ganzer Schwall von Neuankömmlingen in den Klub. Zuerst zwei Frauen über siebzig, beide mit Baseballkappen auf dem Kopf. Dann eine sehr beleibte Frau mit Korkenzieherlocken, die in alle Richtungen abstehen, gefolgt von einem Paar jüngerer Frauen, Schwestern, sehr fit und mit Pferdeschwanz. Eine kurze Pause tritt ein, und ich blicke auf den Parkplatz, wo sich die aufgehende Sonne golden in den Autos widerspiegelt. Ein weißhaariger Mann betritt den Klub, er geht leicht vorgebeugt. Er ist der Letzte der Gruppe: Stewart Goodall, eng stehende Augen und ein schiefes Lächeln.
Kannst du dir so einen Brief vorstellen, Stewart Goodall? Jeder, den ich kannte, war fortgegangen zu einem Ort, der noch viel schöner sein sollte als das Paradies, und ich blieb zurück, und jetzt war auch Tabitha weg, hatte sich fortgeschlichen, während ich schlief.
Nach einwöchiger Genesung kehrte ich an meinen Schreibtisch beim Wakachiai Project zurück. Da das Projekt von nur zwei Personen betrieben wurde, würde es sterben,
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