Weit Gegangen: Roman (German Edition)
wenn ich nicht schnell wieder die Arbeit aufnahm. Die meisten von Noriyakis Sachen waren noch da: seine Briefe, sein Trainingsanzug, sein Computer, das Bild von Wakana in ihrem weißen Tennisdress. Ich war nicht auf den Schock vorbereitet, ohne ihn dort zu sein. Ich packte all seine Sachen in eine Kiste, doch noch immer hing den ganzen Tag über sein Name im Raum. Ich wusste, ich würde sehr bald fortgehen müssen.
Ich wurde beauftragt, einen Ersatz für Noriyaki zu finden. Die Japaner wollten das Projekt weiter finanzieren und in Gang halten. Ich musste einen neuen Angestellten aussuchen. Ich führte Vorstellungsgespräche mit etlichen Kandidaten, hauptsächlich Kenianern. Es war das erste Mal, dass ein sudanesischer Flüchtling darüber entscheiden sollte, ob ein Kenianer in Kakuma einen Job bekam.
Ich entschied mich für einen Kenianer namens George, und er wurde mein Assistent. Wir planten weiterhin Aktivitäten für die Jugendlichen in Kakuma, und kurz nach meiner Rückkehr erhielten wir aus Tokio eine große Lieferung von Fußbällen, Volleyballtrikots und Joggingschuhen. Noriyaki hatte monatelang versucht, das Geld für diese Lieferung aufzutreiben, und jetzt all die neuen Sachen im Büro verteilt zu sehen – es war so schwer.
Einmal die Woche überprüfte der Arzt meine Genesung. Ich hatte Schmerzen in Knochen und Gelenken, doch die Symptome, die er befürchtet hatte – Schwindelgefühl, unscharfes Sehen, Übelkeit –, blieben mir erspart. Nur die Kopfschmerzen, die im Laufe des Tages unterschiedlich stark auftraten, machten mir zu schaffen, und nachts waren sie am schlimmsten. Ich legte den Kopf aufs Kissen, und prompt wurden die Schmerzen schlimmer. Meine Freunde und meine Familie sorgten sich um mich und beobachteten mich argwöhnisch. Ich hatte in Lopiding fast zehn Pfund abgenommen, deshalb versorgten sie mich mit Sonderrationen und allem, was sie finden konnten, um mich abzulenken: einem selbst gebastelten Schachspiel, einem Comic-Heft. Wenn ich dann einschlief, schlief ich ungemein tief, und man merkte kaum noch, dass ich atmete. Mehr als einmal wurde ich wach, weil Gop mich an der Schulter rüttelte, um sich zu vergewissern, dass ich noch lebte.
Nach einem Monat hatte mein Körper sich erholt, ich war aber von einer Gefühllosigkeit ergriffen, die ich selbst schlecht definieren konnte und die andere nicht bemerkten. Äußerlich erfüllte ich meine Pflichten bei der Arbeit und zu Hause, und mein Appetit war wieder normal. Nur ich allein wusste, dass ich mir vorgenommen hatte, etwas zu ändern. Entgegen nahezu jedem Rat, hatte ich endgültig beschlossen, zu meiner Familie in den Sudan zurückzukehren. Es gab keinen Grund, in Kakuma zu bleiben, und der Aufenthalt dort war eine tägliche Strafe. Gott und die Obrigkeit hatten beschlossen, dass ich nichts Besseres als das hier verdiente, dass dieses Leben für das Insekt namens Valentino Achak Deng gut genug war. Doch Tabithas Brief hatte etwas in mir zerspringen lassen, und jetzt konnte mir Kakuma, samt meinen Pflichten und den Erwartungen, die an mich gestellt wurden, den Buckel runterrutschen. Ich beschloss, zuerst nach Loki zu gehen und mich von dort irgendwie nach Marial Bai durchzuschlagen. Das Geld, das ich hatte, würde vermutlich reichen, um mir einen Platz auf einem der Hilfsflüge zu erkaufen. Ich hatte gehört, dass so etwas schon passiert war, und zwar mit weniger Geld als dem, was ich bereits gespart hatte.
Gop bestärkte mich unabsichtlich in meinem Vorsatz, das Camp zu verlassen. Er sprach häufig davon, dass der Friede im Südsudan unmittelbar bevorstand. Er wies auf viele positive Entwicklungen hin, beispielsweise auf die gemeinschaftliche Sudaninitiative von Libyen und Ägypten im Jahr 2000. Auch wenn sie später außer Kraft gesetzt wurde, schuf sie doch die Voraussetzungen für die Schaffung einer Interimsregierung, für Gewaltenteilung, eine Verfassungsreform und Neuwahlen. Und nur wenige Tage zuvor hatte Präsident Bush den ehemaligen Senator John Danforth zum US-Sondergesandten im Sudan ernannt. Der würde, so sagte man, ganz gewiss sehen, wie notwendig der Frieden war, und die Macht Amerikas würde dafür sorgen, dass dieser Frieden Wirklichkeit wurde.
– Du siehst heute besser aus, sagte mein neuer Assistent George eines Tages. Wir waren dabei, die Netze auf den Basketballfeldern zu ersetzen, und George trug eine Trillerpfeife an einem Band um den Hals. Er trug die Pfeife unheimlich gern.
Als ich George von meinem Plan
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