Weit Gegangen: Roman (German Edition)
glaubten, das sei sehr viel Geld. Dann sprachen sie über Lebensmittel-und Mietpreise. Sie ließen uns alles durchrechnen, und wir merkten, dass wir mit fünf bis sechs Dollar die Stunde nicht würden leben können. Ich glaube nicht, dass uns an jenem Tag eine Lösung für das Problem angeboten wurde, aber wir waren zu aufgekratzt, um uns an Einzelheiten zu stören. Wir versuchten, jedes Wort mitzubekommen, aber wir waren zu aufgeregt. Am ersten Tag kam das Vorhaben, Zahlen und Fakten zu lernen, dem Versuch gleich, Fledermäuse zu fangen, die aus einer Höhle flattern. Unsere Aufmerksamkeit zu fesseln gelang ihnen erst, als der Amerikaner eine Kühltasche hervorholte und einen großen Block Eis herumgehen ließ. Ich hatte schon Eis gesehen, wenn auch in kleinerer Form, aber die anderen Jungen kannten es nicht, und sie lachten und quietschten und reichten den Eisblock von Hand zu Hand weiter, als würde es sie für immer verändern, wenn sie es zu lange festhielten.
Im Büro versuchte ich, George alles zu vermitteln, was ich wusste, schließlich würde er das Projekt jetzt übernehmen. Er war sehr wissbegierig, aber uns beiden war klar, dass mein überstürzter Fortgang zu Problemen führen würde. Innerhalb eines Monats hatte das Projekt seine beiden wichtigsten Mitarbeiter verloren.
– Vielleicht schicken sie ja einen anderen Japaner, sagte George.
– Ich hoffe nicht, sagte ich.
Ich wollte nicht, dass noch mehr Leute nach Kakuma kamen, es sei denn, sie hatten keine andere Wahl. Ich wollte, dass wir selbstständig wurden, unsere Probleme selbst lösten und keine Unschuldigen mit in die Grube hineinzogen, die wir selbst gegraben hatten. Der Plan schien mir ganz vernünftig, zumindest an jenem Tag, und nachdem wir das Büro am Nachmittag abgeschlossen hatten, genoss ich das befriedigende Gefühl, eine weitere Angelegenheit im Lager geregelt zu haben.
Als ich im noch grellen Nachmittagslicht nach Hause ging, sah ich meine Stiefschwester Adeng mit raschen Schritten auf mich zukommen. Sie hatte die Arme fest um den Oberkörper geschlungen und einen eigentümlichen Ausdruck im Gesicht.
– Komm schnell, sagte sie.
Sie nahm meine Hand. Sie hatte noch nie meine Hand gehalten.
– Warum? Was ist denn?, fragte ich.
– Da ist ein Auto, sagte sie. – Vor unserem Haus. Für dich.
Bis dahin hatte nur ein einziges Mal ein Auto vor unserer Unterkunft gehalten, und zwar, als Abuk angekommen war.
Wir gingen rasch nach Hause.
– Siehst du?, sagte sie.
Als wir ankamen, sahen wir vier Autos, UN-Wagen, schwarz und sauber, um sie herum überall Staub. Ich blieb mit Adeng stehen. Die Autotüren wurden geöffnet, und ein Dutzend Leute stiegen gleichzeitig aus. Es waren zwei Weiße dabei und zwei Kenianer, die Übrigen waren Japaner, alle gut gekleidet – Sakkos und Krawatten, saubere weiße Hemden. Ein junger Japaner, groß, in einem dunkelbraunen Anzug, stellte sich als Übersetzer vor. Und dann verstand ich.
– Das sind die Eltern von Noriyaki Takamura, sagte der Mann und deutete auf ein Paar mittleren Alters. – Das ist Noriyakis Schwester. Sie sind aus Japan gekommen, um dich kennenzulernen.
Fast hätten meine Beine nachgegeben. Es war eine so komplizierte Welt.
Seine Eltern begrüßten mich, nahmen meine Hand zwischen ihre. Sie sahen Noriyaki sehr ähnlich. Seine Schwester nahm meine Hand. Sie sah aus wie Noriyakis Zwilling.
– Sie bitten um Entschuldigung, sagte der Übersetzer, – aber Wakana, Noriyakis Verlobte, ist nicht wohlauf. Sie wollte dich kennenlernen, aber das alles fällt ihr sehr schwer. Sie liegt auf dem UN-Gelände im Bett. Sie sendet dir ihre besten Wünsche.
Noriyakis Vater sagte etwas zu mir, und der Mann im dunkelbraunen Anzug übersetzte.
– Sie sagen, es tue ihnen leid, dass du in deinem Leben solchen Schmerz erdulden musstest. Sie haben viel von dir gehört, und sie wissen, dass du gelitten hast.
– Bitte sagen Sie ihnen, dass es nicht ihre Schuld ist, sagte ich.
Der Mann übersetzte das ins Japanische. Sie sagten wieder etwas zu mir.
– Sie sagen, es tut ihnen leid, dass sie zur Tragödie deines Lebens beitragen.
Noriyakis Mutter weinte jetzt, und bald darauf weinte ich auch.
– Es tut mir so leid, dass Sie Noriyaki verloren haben, sagte ich. – Er war ein guter Freund. Alle im Lager mochten ihn. Ich flehe Sie an, weinen Sie nicht um mich.
Jetzt weinten alle. Noriyakis Vater hatte sich auf den Boden gesetzt und die Hände vors Gesicht gelegt. Der Mann im dunkelbraunen Anzug
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