Weit Gegangen: Roman (German Edition)
übersetzte nicht mehr. Noriyakis Mutter und Vater weinten, und ich weinte dort, vor meiner Unterkunft, in der Hitze und dem Licht von Kakuma.
Mir blieben noch zwei Tage, ehe ich nach Nairobi und dann nach Amsterdam und Atlanta abflog. Ich fand keine Ruhe in jener Nacht und erwachte früh, Stunden vor dem zweiten Kurstag in Kultureller Orientierung. Im tintenblauen Licht vor Tagesanbruch ging ich durchs Lager und war mir sicher, dass ich das alles nie wiedersehen würde. Ich hatte den Sudan nie wiedergesehen, hatte Äthiopien nie wiedergesehen, seit wir von dort geflohen waren. In meinem Leben hatte sich bis zu diesem Punkt alles stets nur in eine Richtung bewegt. Immer war ich geflohen.
Es gab viel zu viel zu tun in den letzten achtundvierzig Stunden. Ich wusste, dass ich längst nicht alles gut machen würde. Der Orientierungskurs endete um zwei Uhr, und solange es noch hell war, musste ich meine Lebensmittelkarte abgeben, packen und mich dann von Hunderten Menschen verabschieden, die ich nie wiedersehen würde.
Ich wusste, dass ich die meisten meiner Sachen verschenken würde, denn wenn jemand das Lager verlässt, wird er regelrecht okkupiert, auf einmal ist er ungemein beliebt. Der Anstand verlangt es, dass er alle seine Habe denjenigen überlässt, die im Lager bleiben. Doch zuerst werden üblicherweise Dinge »gebucht«, das heißt, wer dem abreisenden Flüchtling nahesteht, erklärt, was er nach dessen Abreise gern haben möchte.
Einen Tag nachdem ich erfahren hatte, dass ich das Lager verlassen würde, war alles gebucht, was ich besaß. Deng Luol hatte meine Matratze gebucht. Mabior Abuk hatte mein Bett gebucht. Cornelius, der Junge aus der Nachbarschaft, hatte mein Fahrrad gebucht. Achiek Ngeth, ein älterer Freund, hatte meine Uhr gebucht, über die er sich schon oft lobend geäußert hatte. Ich gab etwas von meinen Ersparnissen für neue Kleidung aus, eine Hose mit Seitentaschen, leicht und modisch.
An jenem Abend und am nächsten Morgen sauste ich auf meinem Fahrrad von hier nach dort, und wenn die Leute mich sahen, waren sie noch immer fassungslos, dass ich tatsächlich fortging.
– Verlässt du uns wirklich?, fragten sie.
– Ich hoffe es!, sagte ich. Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, ob das alles real war.
Es war Samstag, und am nächsten Nachmittag würde ich fort sein. Ich war noch immer nicht endgültig überzeugt davon, dass ich wirklich fortging, weil es so viele Fehlstarts gegeben hatte, die alle schmerzlich gewesen waren. Hinzu kam, dass ich eigentlich kein Recht hatte, in die Vereinigten Staaten zu gehen, das alles ergab keinen Sinn. Es wäre sehr viel logischer gewesen, wenn die ganze Aktion abgeblasen worden wäre. Doch während ich durchs Camp sauste und allerorts Hände schüttelte, wurde es allmählich vorstellbarer, dass ich fortgehen würde, sogar wahrscheinlich. Mit jeder Person, die von meinem bevorstehenden Fortgang wusste und mir alles Gute wünschte, glaubte ich mehr daran. So viele Menschen konnten doch nicht getäuscht werden.
Als ich zu Hause ankam, um meine letzte Nacht in Kakuma zu verbringen, nahm ich ein sehr trauriges und freudiges Abendessen mit Gop und meiner »Leihfamilie« ein. Ayen und ihre Töchter weinten, weil ich fortging. Meine Schwestern weinten auch, weil für sie selbst keinerlei Aussicht bestand, aus dem Lager zu kommen, es sei denn, sie wurden mit wohlhabenden Männern im Sudan verheiratet. Obwohl sie es alle genauso verdient hätten wie ich, wurden sie von den UN nicht für die Umsiedelung in Betracht gezogen, weil sie eine Familie waren und somit nicht in Gefahr. Von den Zielländern der Umsiedlung war offenbar kein einziges bereit, Familien aufzunehmen, und so sind Gop, seine Frau und seine Töchter heute noch in Kakuma.
Nach dem Abendessen packte ich die wenigen Habseligkeiten ein, die ich mitnehmen würde: die neue Hose, die ich gekauft hatte, und die vielen Dokumente, die ich behalten hatte – meine Zeugnisse, eine Bestätigung, dass ich einen Schiedsrichterlehrgang besucht hatte, meine Erste-Hilfe-Bescheinigung, meinen Mitgliedsausweis für die Theatergruppe –, alles in allem zwölf Dokumente. Ich suchte mir zwei passende Stücke Pappe, klebte sie zusammen und schob die Unterlagen hinein, damit sie während der Reise nicht beschädigt wurden. Und dann geschah etwas Seltsames: Maria kam in mein Zimmer. Ich hatte vorgehabt, mich am nächsten Tag von ihr zu verabschieden, aber auf einmal war sie da.
Ich weiß nicht, wie sie es geschafft
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