Weit Gegangen: Roman (German Edition)
den Blick über die Namen gleiten. Gop blieb vorgebeugt stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. Da waren so viele Namen, das Licht war grell, die Tinte schwach.
– Da steht er!, schrie Gorial. Er presste seinen Finger auf die Liste, sodass ich nichts sehen konnte. Ich fegte den Finger weg und las meinen Namen.
DOMINIC AROU. 9. SEPTEMBER. ATLANTA.
Jetzt sah Gop ihn auch.
– 9. September?, sagte er. – Das ist Sonntag. In vier Tagen.
– Oh Gott, sagte ich.
– In vier Tagen!, sagte er.
Die Jungen machten ein Lied daraus. – In vier Tagen! In vier Tagen! In vier Tagen ist Dominic fort!
Ich umarmte Gop, und er sagte, er würde es der Familie erzählen. Er rannte los und ich rannte los, zurück zum Bus. – Ich fahre!, sagte ich zu George.
– Nein!, sagte er.
Ich erzählte es den Jungen.
– Wohin? Mit uns?
– Nein, nein. Nach Amerika. Mein Name steht auf der Liste.
– Nein!, schrien alle. – Nein, stimmt nicht, niemals!
– Du gehst wirklich fort?, fragte George.
– Ich glaube ja, sagte ich und konnte es selbst nicht richtig glauben.
– Nein! Du bist lebenslänglich hier!, witzelten die Jungen.
Doch schließlich verstanden sie. Ich würde an diesem Tag nicht mit ihnen fahren und sie wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen. Manche von ihnen schienen gekränkt, aber sie versuchten, sich für mich zu freuen. George schüttelte mir die Hand, und sie kletterten über ihre Sitze und drängten sich um mich und klopften mir auf den Rücken und den Kopf und umarmten meine Taille und meine Beine mit ihren dünnen Ärmchen und kleinen knochigen Händen. Ich wusste nicht, ob ich sie vor meiner Abreise noch einmal sehen würde. Ich umarmte alle Jungen, die ich erreichen konnte, und wir weinten und lachten gemeinsam, weil alles so verrückt war.
Es war Mittwochabend, und ich würde Sonntag abreisen. Vor meinem Abflug nach Nairobi hatte ich noch Hunderte von Dingen zu erledigen. Im Kopf ging ich alles durch, was ich noch zu tun hatte. Die Zeit reichte nicht. Ich wusste, was getan werden musste, weil ich ja miterlebt hatte, wie alle meine Freunde vor mir abreisten. An zwei der kommenden drei Tage würde ich den Kurs für Kulturelle Orientierung besuchen, womit keine Zeit für irgendetwas anderes blieb. Am Samstag würde ich mich von meiner KakumaFamilie und meinen Freunden verabschieden, doch vorher würde der reinste Wahnsinn ausbrechen.
Am selben Abend ging ich noch einmal zum Schwarzen Brett, um mir meinen Namen erneut anzusehen. Es war wahrhaftig meiner. Das konnte kein Irrtum mehr sein. Sie konnten meinen Namen nicht mehr von der Liste streichen. Das heißt, sie konnten es, sie konnten alles tun und taten es auch oft, aber ich fand, dass ich jetzt zumindest Grund hatte, mich zur Wehr zu setzen, falls sie versuchen sollten, ihr Versprechen zurückzunehmen. Als ich an dem Abend aufs Schwarze Brett schaute, entdeckte ich meinen Namen auch auf der Liste für die Bestätigungsschreiben der US-Einwanderungsbehörde. Das Schreiben war mir nicht geschickt worden. Ich musste es nur abholen, und damit wäre meine Entlassung abgeschlossen. Es geschah alles auf einmal. Ich wusste nicht, was ich von der Logik der UN halten sollte, aber es war auch egal. In drei Tagen würde ich abreisen, und bald wusste jeder davon.
Ich erzählte es allen, die ich traf, und die wiederum erzählten es dann zehn oder zwanzig anderen. Überall in den Unterkünften herrschte große Freude, aber auch Besorgnis. Gops Familie und viele meiner Freunde zeigten sich zwar erfreut, sorgten sich aber auch um mich: Was war davon zu halten, dass ich so kurz nach meinem Unfall diese Reise antreten würde? Das konnte nicht gut sein, dachten sie. Es war, als würde ich mein Schicksal herausfordern, indem ich so bald nach einem beinahe tödlichen Unglück eine so weite Reise machte. Niemand sagte mir das. Ich war glücklich und unbekümmert, und sie wollten meinen Optimismus nicht dämpfen. Stattdessen beteten sie. Ich betete. Alle beteten. Und bei alldem dachte ich: Das ist nicht richtig. Ich habe gerade erst erfahren, dass meine Familie lebt. Wie kann ich da um die halbe Welt fliegen? Sollte ich nicht wenigstens in Kakuma bleiben, bis der Sudan wieder sicher ist? Ich hatte fünfzehn Jahre darauf gewartet, meine Familie zu sehen, und jetzt entfernte ich mich freiwillig noch weiter von ihr. Dennoch, es war Gottes Wille. Etwas anderes kam mir nicht in den Sinn. Gott hatte mir diese Chance gegeben, da war ich mir sicher, und als ich von den
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