Weit Gegangen: Roman (German Edition)
die Lost Boys gratulierten mir, und beide vibrierten förmlich vor Vorfreude. Ich war wie betäubt. Ich war sicher, dass ich die Sprache verloren hatte. Es kam mir unvorstellbar vor, dass ich in einer Stunde mit meinem Vater sprechen sollte. Ich hatte mir nicht einmal überlegt, was ich sagen wollte. Würde er sich an mich erinnern? Er hatte, wie ich wusste, mittlerweile so viele Kinder, und er war nicht mehr der Jüngste … Es war eine schreckliche Stunde, die ich wartend in dem schmalen Raum verbrachte, während der Somali in sein Funkgerät schnauzte.
Ein burundisches Pärchen war vor mir dran und versuchte, einen Onkel zu erreichen, von dem sie hofften, dass er ihnen Geld schicken würde, aber sie hatten kein Glück. Und bald darauf war ich wieder an der Reihe. Mr CB nahm mein Geld mit einer gewissen Großspurigkeit entgegen, die wohl darauf zurückzuführen war, dass zumindest diese eine Verbindung, meine Verbindung, funktioniert hatte, und nahm wieder Kontakt zu dem Mann in Marial Bai auf.
– Hallo?, sagte er. – Ist er da? Okay.
Das Mikrofon wurde mir in die Hand gedrückt. Ich starrte es an. Es war so tot wie ein Stein.
– Sag was, Junge!, drängte der Dinka-Assistent.
Ich hob das Mikrofon an den Mund.
– Vater?
– Achak!, sagte eine Stimme. Die Stimme kam mir völlig fremd vor.
– Vater?
– Achak! Wo um alles in der Welt steckst du?
Die Stimme brach in ein dröhnendes Lachen aus. Es war mein Vater. Zu hören, wie mein Vater meinen Namen sagte! Ich musste glauben, dass er es war. Ich wusste, dass er es war. Und als ich es gerade mit Sicherheit wusste, war die Verbindung zu Ende. Der Somali sah sich in seiner Ehre gekränkt und rief erneut an. Wenige Minuten später schallte die Stimme meines Vaters wieder aus der Kiste.
– Achak!, bellte er. – Sag was, wenn du kannst! Sei flink wie ein Hase!
– Vater, die wollen mich in die Vereinigten Staaten schicken.
– Ja, sagte er. – Ich habe gehört, dass Jungen dahin geschickt werden. Wie ist das?
Wieder brach die Verbindung ab. Als Mr CB erneut Kontakt zu Marial Bai hatte, machte ich da weiter, wo ich aufgehört hatte.
– Ich bin nicht in Amerika. Ich bin in Kakuma. Ich wollte dich fragen, was ich machen soll. Ich will dich sehen. Ich weiß nicht, ob ich so weit fortgehen soll, wo ich doch jetzt weiß, dass du und meine Mutter leben. Ich will nach Hause kommen.
Wieder versagte das Funkgerät. Diesmal brauchte der Somali zwanzig Minuten, um den IRC-Mitarbeiter erneut zu erreichen, und die Verbindung war jetzt viel schwächer.
Als mein Vater und ich einander wieder hören konnten, redete er bereits, als seien wir nie unterbrochen worden. Er hielt mir jetzt eine Predigt, sehr ernst und mit erhobener Stimme.
– Du musst gehen, Junge. Bist du verrückt? Unser Dorf liegt noch in Schutt und Asche nach dem letzten Überfall. Komm nicht her. Ich verbiete es dir. Geh in die Vereinigten Staaten. Gleich morgen.
– Und wenn ich euch dann nie wiedersehe?, sagte ich.
– Was? Du wirst uns wiedersehen. Die einzige Möglichkeit, uns wiederzusehen, ist, in die Vereinigten Staaten zu gehen. Komm als erfolgreicher Mann zurück.
– Aber Vater, was …
– Ja, das Was. Richtig. Verstanden. Das ist es. Geh. Ich bin dein Vater, und ich verbiete dir, hierherzukommen …
Die Verbindung brach endgültig zusammen. Der Somali konnte sie nicht wiederherstellen.
Das war es.
In den letzten Tagen vor meiner Abreise war ich ständig auf Trab. Der nächste Tag war mein erster Kurstag in Kultureller Orientierung und mein letzter Arbeitstag für das Wakachiai Project. Ich lief zum Unterricht und saß mit fünfzig anderen Jungen zusammen, die ich nicht kannte, meist jüngeren, alle in meinem Alter waren schon weg. Wir hatten zwei Lehrer, einen Amerikaner und einen Äthiopier, und der Amerikaner litt heftig unter der Hitze. Der Kursraum war der beste in Kakuma und befand sich im Gebäude der International Organization for Migration. Er hatte ein richtiges Dach und einen richtigen Boden, und wir saßen auf Stühlen. Wir hörten gut zu, aber wir waren zu aufgeregt, um richtig aufzupassen und die Informationen sinnvoll zu verarbeiten.
Sie erzählten vom Leben in den Vereinigten Staaten. Wie man einen Job fand, wie man Geld sparte, dass man pünktlich zur Arbeit ging. Sie sprachen über Wohnungen, Miete und den Einkauf von Lebensmittel. Sie halfen uns bei den Berechnungen: Die meisten von uns, so sagten sie, würden fünf bis sechs Dollar die Stunde verdienen. Wir
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