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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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eine einzige Behausung zu sehen, die nicht aus Gras und Lehm gebaut ist. Es ist ein primitives Land, und das sage ich ohne jede Scham. Ich vermute, falls der Frieden hält, könnte das Gebiet innerhalb der nächsten zehn Jahre einen gewissen Fortschritt erleben, der uns auf das Niveau der übrigen ostafrikanischen Staaten bringt. Ich kenne niemanden, der möchte, dass der Südsudan so bleibt, wie er ist. Alle sind bereit für etwas Neues. In Juba, der Hauptstadt des Südens, veranstaltet die SPLA Panzerparaden. Die Menschen dort sind jetzt stolz, und alle Zweifel, die wir gegenüber der SPLA hegten, und alles Leid, das sie verursacht hat, sind mehr oder weniger vergeben und vergessen. Falls der Süden seine Freiheit erhält, dann wird das ihr Werk gewesen sein, so fragwürdig es auch war.
    Ich merke, dass mein Mund ganz nass ist und das Band nicht mehr richtig haftet. Ich puste, und zu meiner Überraschung löst sich die linke Hälfte des Bandes. Ich kann sprechen, falls ich sprechen möchte.
    »Verzeihung«, sage ich. Meine Stimme ist schwach, viel zu leise. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass er mich gehört hat. »Junger Mann«, sage ich jetzt in normaler Lautstärke. Ich möchte ihn nicht erschrecken.
    Keine Reaktion.
    »Junger Mann«, sage ich noch lauter.
    Er dreht sich kurz zu mir um, ungläubig, als habe er gerade mitbekommen, dass die Couch sprechen kann. Er wendet sich wieder dem Fernseher zu.
    »Junger Mann, kann ich mit dir sprechen?«, frage ich jetzt noch lauter und mit Nachdruck.
    Er wimmert und steht ängstlich auf. Ich kann nur vermuten, dass sie ihm gesagt haben, ich sei Afrikaner, und dass das für ihn nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit der Fähigkeit zu sprechen, schon gar nicht die Sprache seines Landes. Er macht zwei Schritte auf mich zu, bleibt im Durchgang zum Wohnzimmer stehen. Noch immer ist er unsicher, ob ich erneut sprechen werde.
    »Junger Mann, ich muss mit dir reden. Ich kann dir helfen.«
    Das treibt ihn zurück in die Küche, wo er das Handy nimmt, einen Knopf drückt und das Telefon ans Ohr hebt. Er lauscht, scheint aber niemanden zu erreichen. Ich vermute, ihm ist gesagt worden, er soll seine Komplizen anrufen, falls ich aufwache oder es irgendwelche Probleme gibt, und jetzt bin ich aufgewacht und sie melden sich nicht. Er denkt eine Weile über seine missliche Lage nach und gelangt schließlich zu einer Lösung: Er setzt sich wieder und stellt den Fernseher lauter.
    »Bitte!«, rufe ich.
    Er zuckt auf seinem Platz zusammen.
    »Junge! Du musst mir zuhören!«
    Jetzt sucht er nach einer anderen Lösung. Er beginnt, Schubladen zu öffnen. Ich höre Besteck klappern und bekomme Angst, dass er etwas Drastisches tun könnte. Er öffnet fünf, sechs Schubladen und Schränke. Schließlich kommt er mit einem Telefonbuch aus der Küche. Er kommt damit auf mich zu und hält es über meinen Kopf.
    »Junger Mann? Was hast du vor?«
    Er lässt das Buch fallen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas auf mich zufliegen sehe und unfähig bin, entsprechend zu reagieren. Ich versuche, den Kopf wegzudrehen, aber das Buch landet trotzdem mitten in meinem Gesicht. Es tut umso mehr weh, als ich ohnehin schon Kopfschmerzen habe und mit dem Kinn auf den Boden schlage. Das Telefonbuch rutscht mir über die Stirn und bleibt an die Schläfe gelehnt liegen. Er denkt, er habe sein Ziel erreicht, kehrt in die Küche zurück und die Lautstärke wird noch etwas höher gedreht. Dieser Junge denkt, ich gehöre nicht zu seiner Spezies, dass ich ein völlig anderes Wesen sei, eines das unter dem Gewicht eines Telefonbuchs zerquetscht wird.
    Der Schmerz ist nicht groß, aber die Symbolik widerwärtig.

VI.
    Nach Minuten oder Stunden mühsamen Schlafs öffne ich die Augen. Der Junge schlummert auf der Couch über mir. Er hat seine Handtuch-Decken mitgebracht und es sich am Couchende bequem gemacht, die Füße fest unter die Kissen geschoben. Und er wimmert. Er hat einen Albtraum, sein Gesicht ist verzogen wie das eines Säuglings, und der quengelige Ausdruck macht ihn um Jahre jünger. Aber ich habe jetzt weniger Mitleid mit ihm.
    Ich kann keine Uhr sehen, aber dem Gefühl nach ist es mitten in der Nacht. Draußen ist kein Verkehrslärm zu hören. Es könnte Mitternacht sein oder noch später.
    Achor Achor, ich will dich nicht verfluchen, aber die Situation sähe ganz anders aus, wenn du dich bequemen würdest, nach Hause zu kommen. Ich mag und bewundere Michelle, und ich bin stolz auf dich, dass du

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