Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ich unterwegs war, wurden schließlich Soldaten. Wollten das alle? Nur wenige. Sie waren zwölf, dreizehn Jahre alt, kaum älter, als sie eingezogen wurden. Wir alle wurden benutzt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Wir wurden für den Krieg benutzt, wir wurden benutzt, um Nahrung aufzutreiben und das Interesse der Hilfsorganisationen zu wecken. Selbst als wir zur Schule gingen, benutzte man uns. Das hatte es schon vorher gegeben, in Uganda ebenso wie in Sierra Leone. Rebellen benutzen Flüchtlinge, um Hilfe zu bekommen, um den Eindruck zu erwecken, dass sich das, was geschieht, darauf reduzieren lässt, dass zwanzigtausend verlorene Seelen Nahrung und Schutz suchen, während in ihrer Heimat ein Krieg tobt. Doch nur wenige Meilen von unserem zivilen Lager entfernt hatte die SPLA ihren Stützpunkt, wo ausgebildet und geplant wurde, und zwischen den beiden Lagern gab es einen steten Fluss von Nachschub und Rekruten. Aid bait , nannte man uns manchmal, Köder für Hilfsorganisationen . Zwanzigtausend verlassene Jungen mitten in der Wüste. Natürlich fühlte sich da nicht nur die UN in der Pflicht, sondern auch Save the Children und die Lutheran World Foundation . Doch während uns der humanitäre Teil der Welt mit Nahrungsmitteln versorgte, behielt die Sudanesische Volksbefreiungsarmee, die Rebellen, die für die Dinka kämpften, jeden von uns im Auge, wartete darauf, dass wir heranreiften. Sie holten sich diejenigen, die alt genug waren, die stark und fit und zornig genug waren. Diese Jungen zogen über den Berg nach Bonga, ins Ausbildungslager, und wir sahen sie nie wieder.
Im Augenblick staune ich über mich selbst, TV-Boy, denn ich denke darüber nach, wie ich dich retten könnte. Ich stelle mir vor, dass ich erst mich befreie und anschließend dich. Ich könnte mich aus meinen Fesseln winden und dich davon überzeugen, dass es besser für dich wäre, wenn du dich mir anschließen würdest, anstatt bei Tonya und Puder zu bleiben. Ich könnte mit dir verschwinden, wir könnten Atlanta gemeinsam verlassen, uns beide einen anderen Ort zum Leben suchen. Ich habe das Gefühl, dass es in Salt Lake City schön sein könnte, oder in San José. Oder vielleicht sollten wir uns von den Städten fernhalten, allen Städten. Ich glaube, mit Städten bin ich fertig, TV-Boy, aber wo immer wir auch hingehen, ich habe das Gefühl, dass ich mich um dich kümmern könnte. Es ist noch gar nicht so lange her, da war ich wie du.
Aber zuerst müssen wir raus aus Atlanta. Wir müssen weit weg von den Menschen, die dich in diese Lage gebracht haben, und ich muss weg, weil das Klima hier inzwischen unhaltbar geworden ist.
Hier ist alles zu angespannt, zu politisch. Es gibt achthundert Sudanesen in Atlanta, aber keine Harmonie unter ihnen. Es gibt sieben sudanesische Kirchen, und sie bekämpfen einander unaufhörlich und mit zunehmender Erbitterung. Die Sudanesen hier sind in Stammesdenken zurückgefallen, sie vollziehen dieselbe ethnische Spaltung, die wir vor langer Zeit aufgaben. In Äthiopien gab es keine Nuer, keine Dinka, keine Fur, keine Nubier. In vielen Fällen waren wir zu jung, um überhaupt zu wissen, was diese Bezeichnungen bedeuteten, doch selbst wenn wir es wussten, hatte man uns gelehrt, diese angeblichen Unterschiede außer Acht zu lassen, und wir hatten das akzeptiert. In Äthiopien war jeder von uns allein, und wir hatten mit angesehen, wie Hunderte von uns auf dem Weg zu einem Ort, der nur unwesentlich besser war als der, den wir zurückgelassen hatten, gestorben waren.
Fast vom Augenblick unserer Ankunft an war an eine Rückkehr zu dem Leben im Sudan nicht mehr zu denken. Ich war nie in Khartoum, daher kann ich nichts über das Leben dort sagen. Wie ich höre, herrschen dort so etwas wie moderne Verhältnisse. Aber im Südsudan sind wir in jeder Hinsicht mindestens einige Hundert Jahre hinter der industrialisierten Welt zurück. Manche liberale Soziologen mögen mit der Vorstellung hadern, dass eine Gesellschaft hinter einer anderen zurückgeblieben ist, dass es eine Erste Welt gibt und eine Dritte. Doch der Südsudan gehört keiner dieser Welten an. Der Sudan ist etwas Besonderes, und mir fällt kein passender Vergleich ein. Es gibt kaum Autos im Südsudan. Man kann Hunderte von Meilen zurücklegen, ohne irgendeinem Fahrzeug zu begegnen. Es gibt nur eine Handvoll geteerter Straßen. Während ich dort lebte, habe ich keine einzige gesehen. Man könnte schnurgerade von Ost nach West über das Land fliegen, ohne
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