Weit Gegangen: Roman (German Edition)
schnell ich laufen kann, TV-Boy! Sie bemerkt all meine besten Eigenschaften, und die bemerkt sonst keiner. – Du bist wirklich ein wahrer Gentleman, sagt sie, während sie mein Gesicht in ihren Händen hält, – dass du so für mich läufst.
Ich schlucke und hole Luft und bin so erleichtert, dass ich wieder klar und wie ein Mann sprechen kann. – Es war mir ein Vergnügen, Amath.
– Ist dir auch wirklich nichts passiert, Achak.
– Wirklich nicht.
Wirklich nicht. Und als ich mich jetzt abwende, um nach Hause zu gehen – ich habe vor, mich vor dem Abendessen noch zweimal gegen meine Schwester zu lehnen –, kann ich nur noch an Hochzeiten denken.
In ein paar Tagen soll eine Hochzeit stattfinden, zwischen einem Mann namens Francis Akol, den ich nicht gut kenne, und einem Mädchen namens Abital Tong Deng, das ich aus der Kirche kenne. Wieder wird ein Kalb geopfert werden, und ich werde versuchen, möglichst nah heranzukommen, damit ich auch diesmal wieder sehen kann, wie es in die nächste Welt hinübergeht. Beim letzten Mal sah ich die Augen des Kalbs, beobachtete, wie seine Beine zuckten. Es hatte seinen Blick geradewegs nach oben in den weißen Himmel gerichtet und schien diejenigen, die es töteten, nicht ein einziges Mal anzusehen. Ich dachte, dass das Töten dadurch leichter fiel. Das Kalb schien den Männern keinen Vorwurf zu machen, dass sie sein Leben beendeten. Es erduldete seinen frühen Tod mit Mut und Resignation. Bei der nächsten Hochzeit werde ich mich wieder dicht neben den Kopf des Kalbes stellen, um zu sehen, wie es stirbt.
Hochzeiten machten mir Spaß, aber in den letzten Monaten gab es einfach zu viele. Es wurde zu viel getrunken und zu viel gesprungen, und oft jagten mir ein paar der Männer Angst ein, wenn sie zu viel Wein getrunken hatten. Ich überlege, ob ich mich bei der nächsten Hochzeit, der von Francis und Abital, vor den Festlichkeiten drücken kann, ob ich zu Hause bleiben darf und mich nicht fein anziehen und mit den Erwachsenen reden muss, ob ich mich stattdessen unter meinem Bett verstecken kann.
Aber vielleicht wäre Amath da, und vielleicht würde sie ein neues Kleid tragen. Ich kannte alle ihre Sachen, ich kannte alle vier Kleider, die sie besaß, doch es war durchaus möglich, dass sie auf der anstehenden Hochzeit etwas Neues trug. Amaths Vater war ein wichtiger Mann, Besitzer von dreihundert Stück Vieh und Richter bei vielen Streitigkeiten in unserer Gegend, und deshalb trugen Amath und ihre Schwestern oft neue Sachen und hatten sogar einen Spiegel. Den Spiegel hatten sie in ihrer Hütte, und sie standen oft lange davor, lachten und richteten ihr Haar. Ich wusste das, weil ich den Spiegel gesehen und ihr Lachen oft gehört hatte, nämlich von dem Baum neben ihrem Hof aus, auf dem man sich prima verstecken konnte und alles mitbekam, was in der Hütte geschah. Von meinem Ast aus konnte ich nichts Ungehöriges sehen, aber ich hörte sie reden, konnte dann und wann etwas aufblitzen sehen, wenn die Sonne ihren Weg durch das Strohdach fand und auf ihren Ohrringen oder Armbändern glitzerte, Licht in den Spiegel sandte und wieder zurück in den unbarmherzigen Staub des Dorfes.
V.
TV-Boy, es gab Leben in diesen Dörfern! Es gibt Leben! Marial Bai war eine Siedlung mit fünfzehntausend Seelen, obwohl du es ihr nicht angesehen hättest. Bilder von dem Dorf, Bilder, von einem Flugzeug aus aufgenommen, würdest du fassungslos betrachten, weil du weder Bewegung noch menschliche Niederlassungen ausmachen könntest. Ein Großteil des Landes ist verwüstet, aber der Südsudan ist keine grenzenlose Ödnis. Es ist ein Land mit Wäldern und Dschungeln, mit Flüssen und Sümpfen, mit Hunderten von Stämmen, Tausenden von Clans, Millionen von Menschen.
Während ich hier liege, merke ich, dass das Klebeband über meinem Mund sich lockert. Der Speichel, der mir aus dem Mund rinnt, und der Schweiß, der mir übers Gesicht läuft, haben das Material aufgeweicht. Ich beginne, den Prozess zu beschleunigen, bewege die Lippen und verteile den Speichel. Immer mehr löst sich das Band von meiner Haut. Du, TV-Boy, kriegst nichts davon mit. Du scheinst nicht wahrzunehmen, dass da ein gefesselter und geknebelter Mann auf dem Boden liegt und du in der Wohnung dieses Mannes fernsiehst. Aber wir alle passen uns ja an die absurdesten Situationen an.
Ich weiß alles, was man wissen kann, über die Verschwendung von Jugend, über die Möglichkeiten, Jungen zu benutzen. Die Hälfte der Jungen, mit denen
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