Weit Gegangen: Roman (German Edition)
genug, um zu heiraten und eine eigene Familie zu haben und eigenes Vieh. Dieser Mann hatte die rituellen Narben auf der Stirn, was bedeutete, dass er nicht aus unserem Ort stammte. In anderen Gegenden und anderen Dörfern wird den Männern beim Eintritt ins Mannesalter, also mit etwa dreizehn Jahren, die Stirn geritzt.
Diesem Mann, der, wie wir erfuhren, Michael Luol hieß, fehlte eine Hand. Wo seine rechte Hand hätte sein sollen, endete das Handgelenk im Nichts. Die Zuschauer, überwiegend Männer, beäugten den Stumpf, und es kursierten viele Meinungen, wer dafür verantwortlich war. William und ich blieben auf den Knien, so waren wir dem Stumpf am nächsten, gespannt zu erfahren, wie das passiert war.
– Aber dazu haben sie kein Recht!, brüllte ein Mann.
Die Debatte wurde hauptsächlich von drei Männern geführt: dem Häuptling von Marial Bai, einem Bullen von einem Mann mit weit auseinander stehenden Augen, seinem schlanken und lakonischen Stellvertreter und einem rundlichen Mann, dessen Bauch aus dem Hemd platzte und mir jedes Mal in den Rücken stieß, wenn er ein Argument vorbrachte.
– Er ist beim Stehlen erwischt worden. Das war seine Strafe.
– Das ist eine Schande! Wo bleibt die sudanesische Gerechtigkeit?
Der Mann ohne Hand saß da und schwieg.
– Wir können nicht unter der Scharia leben!
– Wir leben nicht unter der Scharia. Das ist in Khartoum passiert. Wer nach Khartoum geht, unterstellt sich dem dortigen Gesetz. Was hast du in Khartoum gemacht, Michael?
Es dauerte nicht lange, und die Männer hatten alle Schuld auf die Schultern des Mannes ohne Hand gewälzt, wenn er nämlich in seinem eigenen Dorf geblieben wäre und nicht gestohlen hätte, dann hätte er seine rechte Hand noch und vielleicht auch eine Frau – denn es herrschte allgemeine Übereinstimmung darin, dass er jetzt nie mehr eine Frau bekommen würde, ganz gleich, welche Morgengabe er zu bieten habe, und dass man von keiner Frau verlangen könne, einen Mann zu nehmen, dem eine Hand fehlte. Michael Luol erntete an diesem Tag wenig Mitgefühl.
Nachdem wir die Moschee verlassen hatten, fragte ich William K, was mit dem Mann passiert war. Ich hatte das Wort Scharia gehört und einige abfällige Bemerkungen über die Araber und den Islam, aber niemand hatte wirklich erklärt, welche Ereignisse dazu geführt hatten, dass Michael Luols Hand entfernt worden war. Auf dem Weg zur Akazie, wo wir Moses treffen wollten, erzählte William K die Geschichte.
– Vor zwei Jahren ist er nach Khartoum gezogen. Er ist als Student hin, und dann ist ihm das Geld ausgegangen. Dann hat er als Maurer gearbeitet. Für einen Araber. Einen sehr reichen Mann. Er hat mit elf anderen Dinka-Männern zusammengewohnt. In einer Wohnung in einem armen Viertel der Stadt. Da wohnten die Dinka, hat Michael Luol gesagt.
Es kam mir seltsam vor, dass die Dinka in einer Gegend wohnten, die als arm galt, während es den Arabern gut ging. Ich sage dir, Michael mit dem Fernseher, die Monyjang, die Menschen unter Menschen, hatten viel Stolz. Ich habe Anthropologen gelesen, die erstaunt über die Selbstachtung der Dinka waren.
– Michael Luol verlor seine Arbeit, erzählte William K weiter. – Oder vielleicht war die Arbeit getan. Es gab keine Arbeit mehr. Er sagte, er hatte keine Arbeit mehr. Und deshalb konnte er die Miete nicht mehr bezahlen. Die anderen Männer warfen ihn aus der Wohnung, und von da an lebte er in einem Zelt am Rand der Stadt. Er sagte, Tausende Dinka lebten dort. Sehr arme Menschen. Sie leben in Häusern aus Plastik und Stöcken, und es ist sehr heiß, und sie haben kein Wasser und nichts zu essen.
Ich weiß noch, dass ich den Mann ohne Hand von diesem Moment an nicht mochte. Es kam mir so vor, als hätte dieser Mann es verdient, seine Hand zu verlieren. So arm zu sein, in einem Plastikhaus zu leben! Um Essen zu betteln! Kein Wasser zu haben! In solcher Armut neben Arabern zu leben, denen es gut ging. Ich schämte mich für ihn. Ich verachtete die Männer, die tagsüber auf dem Markt von Marial Bai tranken, und ich verachtete diesen Mann, der in seinem Plastikhaus lebte. Ich weiß, es ist kein sehr erhebendes Gefühl, die Armen, die Gefallenen zu verachten, aber ich war zu jung, um Mitleid zu empfinden.
William erzählte weiter. – Michael Luol begann im Müll nach Essen zu suchen. Er zog mit anderen Männern los auf die Müllkippe, und sie durchwühlten den Abfall der Stadt. Er ging morgens dorthin, und da waren Hunderte von Menschen,
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