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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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eine Amerikanerin gefunden hast, die dich liebt, aber im Augenblick halte ich dein Verhalten für verantwortungslos. Gleichzeitig frage ich mich, woher die Einbrecher wussten, dass du nicht da sein würdest, wieso sie sicher sein konnten, ihren Sohn, ihren Bruder, einfach so hierlassen zu können. Das ist schwer zu verstehen. Sie sind entweder genial oder einfach nur leichtsinnig.
    Ich frage mich, was für Bilder dich bedrängen, TV-Boy. Ich bin unschlüssig – ich könnte dich erneut ansprechen, dich aus deinen unruhigen Träumen wecken, oder ich könnte es klammheimlich genießen, dass ein Junge, der glaubt, er könne einen Afrikaner mit einem Telefonbuch zerquetschen, jetzt nächtliche Ängste aussteht. Es erscheint mir nicht allzu grausam, dich auf der Couch wimmern zu lassen, TV-Boy. Was würdest du denn wohl als Nächstes auf mich fallen lassen, falls ich dich wieder anspreche? Ich habe ein dickes Wörterbuch in meinem Zimmer und zweifle nicht daran, dass du es verwenden würdest.
    Ein Telefon klingelt, nicht meines. Mein Telefon ist verschwunden. Der Klingelton ist ein beliebter Song, dessen Titel mir nicht einfällt. Ich kenne mich kaum mit amerikanischer Popmusik aus, selbst nach fünf Jahren und obwohl die meisten meiner Freunde sie mit Begeisterung hören.
    Steh auf, TV-Boy, und geh ans Telefon!
    Das Klingeln hält an. Vielleicht will der Anrufer dir sagen, dass du mich freilassen sollst; der Anrufer könnte die Polizei sein. Auf die Beine mit dir, Junge!
    Nach dreimaligem Klingeln zeigt er noch immer keine Regung. Ich muss selbst Einfluss auf die Ereignisse nehmen. Auf die Gefahr hin, dass weitere Gegenstände auf meinem Kopf landen, mache ich ein so lautes Geräusch, wie ich nur kann. Meine Verzweiflung treibt meine Stimme in höhere Lagen; ich stoße einen lauten Schrei aus, der den Jungen förmlich von der Couch springen lässt. Das Telefon klingelt wieder, und diesmal geht er ran.
    »Ja?«, sagt er. »Ich bin’s, Michael.«
    Eine Männerstimme dringt aus dem Telefon, sonor und langsam.
    »Sie ist noch nicht da.«
    Eine Frage.
    »Ich weiß nicht. Sie wollte längst da sein.«
    Der Junge nickt.
    »Na gut.«
    »Na gut.«
    »Bye.«
    Michael also. Michael, ich bin froh, deinen Namen zu kennen. Es ist ein Name, der weniger bedrohlich klingt als TV-Boy und mich noch mehr davon überzeugt, dass du ein Opfer derjenigen bist, die dich eigentlich beschützen müssten. Michael ist der Name eines Heiligen. Michael ist der Name eines Jungen, der ein Junge sein will. Michael war der Name des Mannes, der den Krieg nach Marial Bai brachte. Man könnte meinen, ein Krieg wie der unsere wäre eines Tages plötzlich da gewesen, ein Donnerschlag und dann Krieg, wie ein Wolkenbruch. Aber, Michael, zuerst verdunkelte sich der Himmel.
    Jetzt hat sich deine Stimmung wahrscheinlich verschlechtert. Du bist schon zu lange hier, in dieser Wohnung, und was als vermeintliches Abenteuer begann, ist jetzt langweilig, sogar beängstigend. Ich bin nicht so harmlos, wie du zuerst dachtest, und ich bin sicher, dir graut vor der Möglichkeit, ich könnte erneut etwas sagen. Vorläufig habe ich nichts zu sagen, jedenfalls nicht laut, aber du solltest von dem Michael erfahren, der 1983 die ersten Vorzeichen des Krieges in unser Dorf brachte.
    William K weckte mich, flüsterte von der anderen Seite unserer Hüttenwand.
    – Steh auf, steh auf!, zischte er. – Steh auf und sieh dir das an.
    Ich hatte keine Lust, auf William K zu hören, weil ich schon so oft von ihm aufgefordert worden war, hierhin oder dorthin zu rennen oder auf irgendeinen Baum zu klettern, nur um mir dann ein Loch anzuschauen, das ein Hund gegraben hatte, oder eine Nuss, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gesicht von Williams Vater hatte. Für William K war alles immer größer, für andere aber nur selten der Rede wert. Aber als William K so flüsterte, hörte ich auch die lauten Stimmen einer aufgeregten Menschenmenge.
    – Komm schon!, drängte William K. – Ich schwöre, du wirst Augen machen!
    Ich stand auf, zog mich an und lief mit William K zur Moschee, wo sich eine neugierige Menge versammelt hatte. Nachdem wir auf allen vieren zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchgekrochen waren, kamen wir auf die Knie und sahen den Mann. Er saß auf einem Stuhl, einem jener stabilen Stühle aus Holz und Stricken, die Gorial Bol herstellte und auf dem Markt und auf der anderen Flussseite verkaufte. Der Mann war jung, etwa im Alter meines Bruders Garang, gerade alt

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