Weit Gegangen: Roman (German Edition)
lässt den Blick ein letztes Mal durch den Raum wandern, ohne mich dabei anzusehen. Sie schubst Michael zur Tür hinaus. Er sieht sich nicht nach mir um. Beruhigt schließt Tonya die Tür. Sie sind fort.
Die Endgültigkeit und die Plötzlichkeit ihres Verschwindens sind erschreckend. Diesmal waren sie höchstens zwei Minuten in der Wohnung, obwohl Tonyas Parfüm noch in der Luft hängt.
Ich bin wieder allein. Ich hasse dieses Atlanta. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich das anders empfand. Ich muss hier weg.
Wie spät ist es? Ich begreife, dass es einen ganzen Tag dauern könnte, bis ich Achor Achor wiedersehe. Wenn ich Glück habe, kommt er noch vorbei, ehe er zur Arbeit muss. Aber er war auch früher schon tagelang bei Michelle. Er hat dort eine Zahnbürste und einen Anzug zum Wechseln. Er wird heute Abend wohl nicht nach Hause kommen und vermutlich von ihr direkt zur Arbeit fahren. In dem Fall werde ich mindestens bis halb sieben morgen Abend hier auf dem Boden liegen bleiben. Nein, halb neun – er hat morgen nach der Arbeit noch ein Seminar.
Ich versuche, um Hilfe zu rufen, denke, dass meine Stimme, auch wenn sie gedämpft wird, laut genug sein müsste, um von den Nachbarn gehört zu werden. Ich versuche es, bringe aber nicht mehr als ein klägliches, dumpfes und leises Stöhnen hervor.
Bald werde ich das Klebeband ausreichend angefeuchtet haben, um meine Lippen frei zu bekommen, aber da es auch um meinen Kopf gewickelt ist, wird es schwierig werden, es mit der Zunge weit genug nach unten zu drücken. Ich muss auf mich aufmerksam machen, einen Nachbarn alarmieren, jemanden an meine Tür holen. Die Polizei muss verständigt, die Einbrecher müssen gefasst werden. Ich brauche Wasser, etwas zu essen. Ich brauche frische Kleidung. Diese Tortur muss ein Ende haben.
Aber sie hat kein Ende. Ich liege auf dem Boden, und es könnte vierundzwanzig Stunden oder noch länger dauern, bis Achor Achor zurückkommt. Er ist schon mal drei Tage hintereinander weggeblieben. Aber niemals ohne anzurufen. Er wird anrufen, und wenn ich mich nicht melde und auch nicht zurückrufe, wird er merken, dass irgendetwas nicht stimmt. Und bis dahin gibt es auch noch andere Möglichkeiten. In diesem Haus sind Menschen, und ich werde mir Gehör verschaffen.
Ich kann gegen den Boden treten. Ich kann die Füße so hoch heben, dass der Tritt auch durch den Teppichboden hindurch zu hören sein müsste. Die Nachbarn von unten, mit denen ich erst einmal gesprochen habe, sind anständige Menschen, sie sind zu dritt, zwei Frauen und ein Mann, alle weiß, alle über sechzig. Sie sind nicht wohlhabend, wenn sie zu dritt in einer Wohnung leben müssen, die genauso groß ist wie die hier, die ich mir mit Achor Achor teile. Eine der Frauen ist sehr stämmig und auf ihrem Kopf sitzt ein kompakter Helm aus silbergrauem Haar, und wenn sie zur Arbeit geht, trägt sie die Uniform einer Security-Firma. Ich weiß nicht, ob und wo die anderen beiden arbeiten.
Ich weiß, dass sie evangelikale Christen sind. Sie haben Broschüren unter meiner Tür hindurchgeschoben, und ich weiß, dass sie mit Eduardo über ihren Glauben diskutiert haben. Eduardo ist Katholik, wie ich, aber diese Nachbarn haben trotzdem versucht, uns für ihre Art von Wiedergeburt in Christus zu gewinnen. Ihr Missionieren hat mich nicht gestört. Als Ron, der ältere Mann, der zu Hause bleibt, mich einmal ansprach, als ich gerade zum Seminar wollte, fing er zunächst mit dem Thema Sklaverei an. Dieser ernst dreinblickende Mann mit dem Gesicht eines überfütterten Kleinkindes hatte etwas über die anhaltende Sklaverei im Sudan gelesen. Seine Kirche schickte Geld an eine evangelikale Gruppe, die den Sudan bereisen wollte, um Sklaven zurückzukaufen. »Ein paar Dutzend«, sagte er.
Das ist eine ziemlich rasch expandierende Branche, zumindest bis vor ein paar Jahren. Als die evangelikalen Kreise von den Versklavungs-und Verschleppungspraktiken in der Region erfuhren, war ihre Leidenschaft geweckt. Das Problem ist komplex, aber wie viele andere Fragen, die den Sudan betreffen, ist es nicht so komplex, wie Khartoum dem Westen glauben machen will. Die Verschleppungen durch die Murahilin begannen 1983, sobald sie bewaffnet waren und ungestraft agieren konnten.
Ihr christlichen Nachbarn, wo seid ihr heute Abend? Seid ihr zu Hause? Würdet ihr mich hören, wenn ich euch riefe? Würde es genügen, einfach nur mit den Füßen auf den Boden zu donnern? Würdet ihr meine Tritte hören? Ich
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