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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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und sie kamen allein. Und jedes Mal, wenn unsere Zahl wuchs, faltete Dut sein flussgrünes Papier auseinander, schrieb die Namen der neuen Jungen auf, faltete es wieder zusammen und schob es in seine Tasche. Er kannte jeden Jungen mit Namen.
    Ich gewöhnte mich ans Gehen, an die Schmerzen in Beinen und Kniegelenken, in Bauch und Nieren, daran, dass ich mir regelmäßig Dornen aus den Fußsohlen ziehen musste. In den ersten Tagen war es nicht so schwierig, etwas zu essen zu finden. Wenn wir durch ein Dorf kamen, versorgten uns die Leute mit ausreichend Nüssen, Samen und Körnern. Aber je größer unsere Gruppe wurde, desto schwieriger wurde das. Und sie wurde größer, Michael! Tag für Tag nahmen wir Jungen auf, und vereinzelt auch Mädchen. Manchmal, wenn wir uns in einem Dorf zum Essen hingesetzt hatten, begannen zwischen Dut und den Ältesten des Ortes bereits Verhandlungen, und wenn wir dann fertig waren und wieder aufbrachen, gehörten die Jungen aus dem Dorf plötzlich zu uns. Manche von diesen Kindern hatten noch Eltern, und in vielen Fällen waren es die Eltern selbst, die uns ihre Kinder mitgaben. Damals verstanden wir nicht ganz, wie so etwas möglich war, dass Eltern ihre Kinder bereitwillig auf eine barfüßige Reise ins Ungewisse schickten, aber derlei Dinge geschahen, und es stimmt auch, dass die Kinder, die auf Wunsch ihrer Eltern mitkamen, meistens besser ausgestattet waren als diejenigen unter uns, die sich dem Zug nur aus Mangel an Möglichkeiten angeschlossen hatten. Diese Jungen und Mädchen hatten Kleidung zum Wechseln dabei und Proviantbeutel und in manchen Fällen auch Schuhe und sogar Socken. Doch diese Ungleichheiten währten nicht lange. Es dauerte nur wenige Tage, bis alle Neuzugänge ebenso mittellos waren wie wir Übrigen. Wenn sie ihre Kleidung gegen Essen, gegen ein Moskitonetz, gegen irgendeinen Luxus, den sie sich leisten konnten, eingetauscht hatten, bereuten sie es. Sie bereuten, dass sie sich dieser Prozession überhaupt angeschlossen hatten, und sie bedauerten, dass sie nicht wussten, wohin wir gingen. Keiner von uns war je an einem einzigen Tag so viel gelaufen, aber wir setzten unseren Weg unermüdlich fort, entfernten uns jeden Tag weiter von zu Hause, und keiner von uns wusste, dass wir niemals zurückkehren würden.

XI.
    Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Michael, ich fürchte, jetzt kriegst du Ärger, denn Achor Achor ist da, und damit ist der Augenblick der Abrechnung gekommen. Wenn ich diese Szene doch nur mit seinen Augen sehen könnte! Er wird für dich und deine Kumpane kein großes Erbarmen kennen.
    Das Schloss ist offen, und die Tür schwingt auf. Ich sehe die massige Gestalt von Tonya.
    »Ach nee, da ist ja einer aufgewacht!«, sagt sie und starrt auf mich hinab. »Michael!«, bellt sie. Sie hat die Kleidung gewechselt, trägt jetzt einen schwarzen Satinanzug. Michael kommt aus meinem Zimmer gestürmt. Er will sich entschuldigen, aber sie unterbricht ihn. »Beweg dich«, zischt sie, »wir haben den Minivan.« Michael geht ins Bad, kommt mit seinen Turnschuhen zurück und zieht sie an. Mir ist schleierhaft, warum er die Schuhe überhaupt im Bad gelassen hat.
    Jetzt ist ein anderer Mann, nicht Puder, in meiner Küche. Er ist kleiner als Puder, hat lange, bewegliche Finger und taxiert den Fernsehapparat, starrt ihn an, als wolle er sein Gewicht abschätzen. Er stöpselt den Kabel-Receiver aus und stellt ihn auf die Küchentheke. Dann nimmt er das Netzkabel in eine langfingrige Hand, geht vor dem Fernseher in die Hocke und kippt ihn sich gegen die Brust. Sekunden später ist er zur Tür hinaus.
    Tonya kommt an mir vorbei – sie riecht stark nach irgendeinem Erdbeerduft – und geht wieder in mein Schlafzimmer. Sie sieht meine Schubladen ein weiteres Mal durch, als würde sie hier wohnen und hätte was vergessen. Mein Magen krampft sich erneut zusammen, als ich mir vorstelle, wie auch sie die Bilder von Tabitha findet. Bei dem Gedanken, dass sie die Fotos in die Hand nimmt, wird mir schlagartig übel.
    Michael steht an der Tür, hat seine Schuhe an den Füßen und seine Fanta in der Hand. Er sieht mich nicht an. Ich öffne einen langen Augenblick den Mund, um etwas zu sagen, entscheide mich aber schließlich dagegen. Ich könnte sie bitten, mich loszubinden, aber das würde sie nur daran erinnern, dass es gefährlicher ist, einen Zeugen zurückzulassen als sich seiner zu entledigen.
    Tonya erscheint wieder und ist Sekunden später mit dem neuen Mann an der Tür. Sie

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