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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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hebe die Beine, die noch immer von den Knien abwärts gefesselt sind, und lasse sie, so fest ich kann, auf den Teppichboden fallen. Das Geräusch ist mager, ein dumpfes Plopp. Ich versuche es wieder, noch fester. Eine volle Minute lang schlage ich mit den Fersen auf den Boden, bis ich außer Atem bin. Ich horche auf irgendeine Reaktion, vielleicht einen hämmernden Besenstiel als Antwort. Nichts.
    Ihr christlichen Nachbarn, weil ihr euch dafür interessiert, werde ich euch von Sklavenraub und Sklavenhandel erzählen. Der Sklavenhandel begann vor Tausenden von Jahren und er ist älter als unser Glaube. Das wisst ihr, oder ihr habt es zumindest vermutet. Die Araber überfielen südsudanesische Dörfer, und das häufig mithilfe rivalisierender Stämme aus dem Süden. Das ist euch nicht neu; es entspricht dem Muster so ziemlich aller Sklavenraubzüge in Afrika. 1898 schafften die Briten die Sklaverei offiziell ab, aber die Praxis der Sklaverei ging weiter, wenn auch in deutlich geringerem Umfang.
    Als der Krieg begann und die Murahilin Waffen erhielten, wurden die gestohlenen Menschen – denn so nannte mein Vater sie, gestohlene Menschen – in den Norden gebracht und unter den Arabern verkauft. Vieles von dem, was ihr gehört habt, christliche Nachbarn, ist leider wahr. Mädchen verrichteten Zwangsarbeit in arabischen Häusern und wurden später Konkubinen, die die Kinder ihrer Herren zur Welt brachten. Jungen hüteten das Vieh und auch sie wurden oft vergewaltigt. Das, so muss ich euch sagen, ist eines der schwersten Vergehen der Araber. Homosexualität ist in der Dinka-Kultur unbekannt, selbst in versteckter Form; es gibt ganz einfach keine praktizierenden Homosexuellen, und daher hat die Vergewaltigung unschuldiger Jungen den Krieg ebenso angefacht wie jedes andere von den Murahilin begangene Verbrechen. Ich sage das mit allem gebührenden Respekt gegenüber den Homosexuellen dieses oder irgendeines anderen Landes. Es ist nun mal eine Tatsache, dass allein die Vorstellung von Jungen, die von Arabern vergewaltigt werden, einen sudanesischen Soldaten zu unglaublich tapferen Taten anspornt.
    Es ist einfach so, dass wir Dinka im Verlauf des Krieges fast ausnahmslos dazu getrieben wurden, sämtliche Araber im Sudan zu verteufeln, dass wir die Freunde vergessen haben, die wir im Norden hatten, und das auf gegenseitiger Unterstützung beruhende, friedliche Leben, das wir mit ihnen führten. Dieser Krieg hat aus viel zu vielen von ihnen und viel zu vielen von uns Rassisten gemacht, und die Führung in Khartoum hat genau dieses Feuer entfacht, hat teilweise Märchen erfunden, um einen neuen Hass zu schüren, der beispiellose Grausamkeiten gebar.
    Das Seltsame dabei ist, dass die sogenannten Araber sich gar nicht so sehr von den Menschen im Süden unterscheiden, vor allem nicht im Aussehen. Habt ihr Omar al-Bashir gesehen, den Präsidenten des Sudan? Seine Haut ist fast so schwarz wie meine. Aber er und seine islamistischen Vorgänger verachten uns Dinka und Nuer, sie wollen uns missionieren, in der Vergangenheit haben führende Köpfe in Khartoum immer wieder versucht, den Sudan zum globalen Zentrum des islamischen Fundamentalismus zu machen. Dabei gibt es im Mittleren Osten reichlich Araber, die ihre eigenen Vorurteile gegen den dunkelhäutigen Bashir und seine stolzen sudanesischen muslimischen Freunde hegen. Innerhalb und außerhalb des Sudan gibt es viele, die sie nicht für Araber halten.
    Dennoch befürworteten die dunkelhäutigen Araber des Nordsudan die Versklavung der Dinka des Südsudan, und wie verteidigt Khartoum dieses Vorgehen, ihr christlichen Nachbarn? Zuerst sagt die Führung, das alles gehe auf jahrhundertealte »Stammeszwistigkeiten« zurück. Auf genaueres Nachfragen behauptet sie, es handele sich nicht um Verschleppungen, sondern um einvernehmlich ausgehandelte Arbeitsverhältnisse. War die Neunjährige, die auf dem Rücken eines Kamels verschleppt und vierhundert Meilen nach Norden gebracht wurde, um dort im Haus eines Armeeleutnants als Dienerin zu arbeiten, etwa eine Sklavin? Nein, sagt Khartoum. Das Mädchen, sagt die Regierung, ist aus freien Stücken dort. In Zeiten der Not hat die Familie des Mädchens mit dem Leutnant vereinbart, dass er die Neunjährige einstellt, sie ernährt und ihr ein besseres Leben bietet, bis ihre biologische Familie wieder in der Lage sei, selbst für sie zu sorgen. Erneut verschlägt einem die Unverfrorenheit der Führung in Khartoum die Sprache: Sie leugnet, dass es in

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