Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Stress einfach nicht mehr fertig, und weil so viel darüber spekuliert wurde, wie sie die Organisation leitete, kamen auch keine Spenden mehr rein. Heute vergibt die Foundation keine Stipendien, vermittelt keine Betreuer für Flüchtlinge und unterstützt keine Sudanesen mehr. Mary hilft noch immer einigen Lost Boys bei den Studiengebühren, aber sie konzentriert sich inzwischen auf andere Dinge. Im Augenblick macht sie eine Fahrradtour quer durchs ganze Land; wenn sie die hinter sich hat, wird auch sie Atlanta verlassen, um als Ranger in den Nationalparks zu arbeiten.
John Garang starb im Juli 2005, ein Jahr nachdem er den Friedensvertrag zwischen der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung (dem jetzigen politischen Arm der SPLA) und der sudanesischen Regierung ausgehandelt hatte und nur drei Wochen nachdem er zum Vizepräsidenten des Sudan ernannt worden war. Er war mit dem Hubschrauber auf dem Rückweg von Uganda in den Sudan, als die Maschine im Dschungel abstürzte und alle Insassen getötet wurden. Obgleich es zunächst Spekulationen gab, es könnte sich um ein Attentat gehandelt haben, gibt es bis heute keine Beweise dafür, und die meisten Sudanesen hier und in anderen Teilen der Welt haben akzeptiert, dass sein Tod ein Unfall war. Wir können dankbar sein, dass der Friedensvertrag vor seinem Tod unterzeichnet worden war. Kein anderer Politiker im Südsudan hätte den erforderlichen Einfluss gehabt, um die Verhandlungen zu führen.
Bobby starb im Winter 2005. Er war neunundvierzig Jahre alt, und seine Kinder waren noch immer im selben Alter wie in dem Sommer, den ich mit ihnen verbrachte – siebzehn, zwölf, neun, drei. Er war in Toronto, um einen Film zu produzieren, und trainierte im Fitnessraum des Hotels. Ich glaube, er saß gerade auf dem Fahrradtrainer, als er ein Flattern, ein Stechen in der Brust spürte. Er stieg ab und setzte sich. Als der Schmerz nachließ, tat er nicht das, was er hätte tun sollen, nämlich auf dem schnellsten Weg zum Arzt zu gehen. Weil er nun mal der war, der er war, setzte er sich wieder aufs Fahrrad, und Minuten später brach er zusammen. Es war ein schwerer Herzinfarkt, Bobby hatte keine Chance zu überleben.
Und nach alldem bin ich noch immer in Atlanta, und ich liege noch immer mit einem Telefonkabel gefesselt auf dem Boden meiner Wohnung und trete noch immer gegen die Tür.
XIV.
Es dauerte viel zu lange, den Nil zu überqueren. Aber wir waren Hunderte, Tausende am Ufer, es gab nur zwei Boote, und es war zu weit, um hinüberzuschwimmen. Zu Anfang versuchten einige Jungen hinüberzugelangen, indem sie wie Hunde mit Armen und Beinen paddelten, aber sie unterschätzten die Kraft des Flusses. Die Strömung war schnell und der Fluss tief. Drei Jungen wurden flussabwärts getrieben, und man sah sie nie wieder.
Wir Übrigen warteten. Alle warteten. Wir waren seit ungefähr sechs Wochen nach Äthiopien unterwegs, und am Fluss vermischte sich unsere Gruppe mit anderen Reisenden – Erwachsenen, Familien, alten Männern und Frauen, Babys. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass nicht nur Jungen auf dem Weg nach Äthiopien waren. Am Flussufer waren Hunderte Erwachsene und Kinder, und man sagte uns, dass Tausende vor uns und Tausende hinter uns seien.
An der Uferböschung wuchs hohes Gras, und in dem Gras dicht am Wasser wimmelte es von Insekten. Wir hatten keine Moskitonetze. Wir schliefen im Freien, und wir machten Feuer mit Reisig und Bambus. Aber das half nicht gegen die Moskitos. Nachts wurde viel geweint. Die Erwachsenen stöhnten, die Kinder jammerten. Die Moskitos taten sich gütlich an uns, auf jeden Einzelnen kamen bestimmt einhundert. Es gab keine Erlösung. Zweifellos wurden Dutzende mit Malaria infiziert, während wir darauf warteten, ans andere Ufer zu kommen. Es dauerte vier Tage, bis wir endlich übersetzen konnten.
Auf der anderen Seite kamen wir in ein Dorf und wurden dort willkommen geheißen. Die Bewohner lebten nahe dem sandigen Ufer und bauten Mais an. Sie teilten ihr Essen mit uns, und ich dachte, ich würde ohnmächtig, so großzügig wie sie waren. Wir saßen in Grüppchen zusammen, und die Frauen des Dorfes brachten uns Brunnenwasser und sogar Eintopf, und in jeder Schale lag ein kleines Stück Fleisch. Kaum hatten wir unser Essen verspeist, schliefen die meisten Jungen auch schon ein, so satt, dass sie die Augen nicht offenhalten konnten.
Als ich erwachte, hatte die orangene Sonne die Baumkronen erreicht, und ich hörte eine Stimme.
– Du da!
Vor
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