Weit weg ... nach Hause
Musiksender läuft eine englische Comicserie, die ziemlich lustig ist. Luisa liegt nach wenigen Minuten laut lachend
vor dem Bildschirm, der Vormittagsstress, die Kälte und die Geburtstagssorgen sind vergessen.
Gegen zwölf Uhr fängt sie an, den Tisch im Wohnzimmer zu decken: sechs Teller und sechs Gläser, rosa Servietten mit orangefarbenen
Kreisen,rote Strohhalme. Aus der Küche holt sie die drei Kuchen, stellt sie in die Mitte des Tisches. Zwischen die Torten platziert
sie den Strauß rosa Röschen, den Katja ihr heute Morgen geschenkt hat. Der Tisch sieht wunderschön aus. Jetzt können sie kommen,
ihre Klassenkameradinnen.
Drei Uhr hat sie in die Einladung geschrieben, aber um zwei erscheinen erst mal Carlo und ihre Mutter.
»Oh, sieht das hübsch aus. Das hast du schön gemacht!«, staunt Katja über die Tischdekoration ihrer Tochter.
»Mädchenbarbierosa!«, lästert Carlo und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.
Der Kommentar ihres Bruders lässt Luisa unberührt. Kurze Zeit später meckert er schon wieder, diesmal über das nicht vorhandene
Mittagessen, die Stulle mit Tomaten findet er »popelig«. Luisa hat überhaupt keinen Hunger. Ihr ist das Tomatenbrot nur recht.
Katja hat sich offensichtlich entschlossen, schon mal die Stimmung anzuheizen. Sie schaltet den C D-Player auf voll laut und spielt Eros Ramazotti. Luisa weiß nicht, ob die Mädchen italienische Popsongs mögen. Ist doch eigentlich
Müttermusik.
Fünf vor drei, sie rennt auf Toilette. NervöseBlase. Drei Uhr. Sie schaut aus dem Fenster. Von ihrem Zimmer aus kann sie die Straße genau beobachten.
Eine Oma mit Dackel, ein Postbote aus dem Haus gegenüber und der schöne Heribert, der Sohn ihrer Nachbarn, die drei sind unterwegs,
sonst niemand. Dieser kalte, feuchte Märztag kriecht durch alle Fensterfugen. Wer nicht rausmuss, bleibt lieber zu Hause.
Schon halb vier: Luisa klopft auf das Glas ihres Weckers. Die Zeiger bewegen sich tatsächlich. Katja singt jedes Ramazottilied
mit. Hat sie die Küchenuhr nicht im Blick? Sieht sie nicht, dass es bereits so spät ist? Gerade mischt sie mit tosendem Geräusch
irgendein Fruchtsaftgetränk in ihrer neuen amerikanischen Küchenmaschine. Sie liebt alles, was aus Amerika kommt. Von Marshmallows
über Küchengeräte bis zu neuen Sportarten. »Amerika ist toll!«, sagt sie einmal in der Woche, wenn sie wieder etwas Neues,
typisch Amerikanisches in einer Zeitschrift entdeckt.
Luisa springt von der Fensterbank.
Hätte sie mit dem da oben noch mal reden sollen? Ihn bitten sollen, die Mädchen zu schicken?
Allmählich steigt Wut in Luisa hoch: Wut auf Gott, den man immer bitten muss, Wut auf Katjaund ihren Lärm, Wut auf das blöde Wetter und Wut auf die Mädchen, die sie einfach hängen lassen.
Mit all der Wut sitzt Luisa schon wieder auf der Toilette, als es an der Tür klingelt. Sie zuckt erschrocken zusammen und
sackt zwei Sekunden später erleichtert zurück.
»Okay, ich nehm alles zurück!«, seufzt sie dankbar und schaut zum Badezimmerdeckenhimmel. »Danke, dass du sie geschickt hast!«
Luisa lauscht, Stöckelschuhschritte nähern sich: Katja tänzelt trällernd zur Tür. Kein Weg ohne kleine Showeinlage. Sie sieht
ihre Mutter vor sich. Die Wohnungstür quietscht, aber sie hört keine Stimmen. Doch! Katja sagt irgendwas – verhalten, fast
schüchtern ihre Stimme –, und irgendjemand antwortet. Dann ruft die Mutter ihren Namen. Luisa wird von einer magischen Kraft auf die Klobrille gepresst.
Ihre Stimme versagt. Nur flüsternde Laute bahnen sich einen Weg zwischen ihren Lippen:
»Ich komme!«, haucht sie, aber niemand kann das hören.
Als sie endlich nach einer Ewigkeit auf den Flur tritt, bemerkt sie, dass es auch außerhalb der vier Badezimmerwände extrem
still ist. Sie geht Richtung Wohnzimmer. Mitten im Raum steht Nathalie,mutterseelenallein. Ein Päckchen in der rechten Hand, die linke verschämt in der Hosentasche.
Sie schaut zu Luisa: »Herzlichen Glückwunsch und danke für die Einladung!«
Luisa nimmt das Päckchen. Es wiegt schwer wie eine Bowlingkugel. Katja bringt den Saft aus der Küche. Luisa starrt auf das
Quadrat in ihrer Hand, findet endlich ihre Sprache wieder: »Schön, dass du gekommen bist, Nathalie. Setz dich! Die anderen
hatten sicher keine Zeit, oder?«
Was redet sie denn da?
»Ich weiß es nicht«, antwortet Nathalie. »Aber ich kann auch nicht lange bleiben. Heute ist Training. Wir spielen am Sonntag
ein
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