Weit weg ... nach Hause
sind bleischwer, der Kopf brummt noch
von all den lauten Worten. Sie schaut auf den Wecker: halb elf. Seit gestern hat niemand mehr mit ihr gesprochen. Sie fühlt
sich elend, aber ohne schlechtes Gewissen. Sie ahnt, dass sie selber die Entscheidung in die Hand nehmen muss, denn der Vater
wird wegen ihr keinen Streit mit Katja anfangen, das ist ihr gestern klar geworden.
Luisa schließt die Augen und fühlt die Sonnenstrahlen: Wärme, Salzwasser, Wind. Eine Jolle schaukelt in glasklarem Wasser
auf den Eingang einer einsamen Bucht zu. Links und rechts steigen weiße Felsen steil an, dort wachsen Kakteen mit orangefarbenen
Früchten. Dazwischen hat dasMeer in vielen hundert Jahren einen Durchgang geschlagen wie ein Tor. Zuerst schimmert das Wasser noch tiefdunkel, aber dann
liegt vor ihr eine Bucht mit einem wunderschönen Strand. Weit und breit keine Menschenseele. Luisa steuert die Jolle geschickt
Richtung Ufer. Ankert. Dann springt sie kopfüber ins Wasser, schwimmt wie ein Fisch und fühlt sich frei wie nie zuvor. Frei
und unendlich glücklich.
Es klopft an ihrer Tür. Katja!
»Luisa, kannst du bitte aufstehen? Ich möchte, dass du noch Brot holen gehst.«
»Ich hab keine Lust!«, antwortet Luisa pampig.
»Es geht hier nicht nach dem Lustprinzip!«, antwortet Katja sofort ärgerlich. »Mir reicht dein Gezicke allmählich und dein
unsägliches Verhalten in der Öffentlichkeit. Ich möchte mich nicht ständig wegen dir schämen. Dein Vater und ich haben beschlossen,
dass du die Klassenfahrt auf jeden Fall mitmachst. Und nicht nur das: Du wirst dich hier zu Hause mehr engagieren, ein paar
kleine Verantwortungen übernehmen.«
Katja verschwimmt vor Luisas Augen hinter ihrem eigenen Redeschwall. Die Mutter wendet sich zum Gehen, dann dreht sie sich
noch malum: »Ach ja, dein Geburtstagsgeschenk, das bekommst du, wenn man mit dir normal sprechen kann. Zur Zeit haben wir keine Lust,
dir eine Freude zu bereiten.«
Luisas Hände verkrampfen sich unter dem Daunenbett im Laken. Die Mutter zieht die Zimmertür lauter als notwendig ins Schloss.
Alle Wörter und Halbsätze fliegen Luisa durch den Kopf, sammeln sich wieder in den Ohren, stürzen in ihr Hirn wie über eine
Riesenrutsche: Verantwortung-übernehmen – mit-dir-normal-sprechen – normal – normal – keine-Lust-dir-eine-Freude-zu-bereiten
– mich-wegen-dir-schämen – Thomas-und-ich-haben-beschlossen!
Luisa schlägt mit dem Kopf von rechts nach links und von links nach rechts, immer schneller. Sie will die Worte aus dem Kopf
schütteln. Aber einzelne Satzfetzen tauchen wieder hoch aus der dunkelgrauen Masse der Vorwürfe. Jetzt fühlt sie sich wirklich
ganz allein. Sie hebt sich aus dem Bett, als hingen Gewichte an den Fußgelenken. Gibt es das nur im Traum, sich frei und glücklich
zu fühlen? Nein! Luisa will das nicht glauben und erinnert sich ganz vage an dieses Gefühl in der Wirklichkeit. Wann hat sie
sich zuletzt geborgen gefühlt? Und bei wem?
Sie sucht ihre Jeans, zieht Sweatshirt und Jacke über und nimmt den Fahrradschlüssel aus dem Porzellanschälchen auf ihrem
Bücherregal. Brot holen ist besser als in dieser Wohnung zu bleiben.
Das Geld liegt auf dem Küchentisch, leise drückt sie sich durch den Flur. Geräuschlos schließt sie die Haustür und läuft die
Treppe hinunter in den Hof. Der Fahrradsattel fühlt sich feucht an, aber das macht ihr nichts. Sie radelt gegen die Einbahnstraße
zum Rheinufer. Die Bäckerei liegt fast zwei Kilometer entfernt, in der Innenstadt. Dort kaufen sie immer Haselnussschwarzbrot
und Kürbiskernweck. Beides schmeckt köstlich und ist eine echte Spezialität von Bäcker Balkhausen. Dafür legt man gern eine
Strecke zurück. Luisa radelt heute fast mechanisch.
Am Rhein wird mächtig gebaut, ein völlig neues Stadtviertel soll hier entstehen mit Geschäften, Kindergarten und sogar einer
Grundschule. Noch graben Firmen an Tiefgaragen, noch kann man vom Fahrradweg direkt auf den Fluss schauen.
Luisa stoppt: Sie liebt es, die Schiffe zu beobachten. Am Ufer steht eine alte Holzbank. Sie lehnt das Rad gegen die Rückenlehne
und setzt sich. Auf dem Rhein herrscht viel Verkehr. Samstagmorgen, und ein Frachtschiff nach dem nächsten passiertden Strom. Sie stellt die Füße auf die Sitzfläche und legt den Kopf auf die Knie. Wie schön es am Wasser ist! Drei Brücken
führen dicht beieinander über den Rhein, am gegenüberliegenden Ufer das vornehme Hotel, in
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