Weit wie das Meer
Beschriftung nach unten, vor sich hin und wartete, daß sich ihr Atem beruhigte. Es ist doch nur ein Brief, sagte sie sich.
Sie holte tief Luft und drehte die erste Seite um. Ein rascher Blick auf die rechte obere Ecke mit dem Segelboot bewies ihr, daß es tatsächlich derselbe Verfasser war. Sie schob das Blatt in den Lichtkegel ihrer Schreibtischlampe und begann zu lesen.
6. April 1994
Meine liebste Catherine!
Wo bist Du, und warum wurden wir für immer getrennt? Das frage ich mich, während ich allein in meinem dunklen Haus sitze.
Ich weiß keine Antwort auf diese Fragen, wie sehr ich auch bemüht bin, es zu begreifen. Der Grund ist einfach, doch mein Verstand zwingt mich, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen, und die Angst martert mich von früh bis spät. Ich bin verloren ohne Dich. Ich bin seelenlos, ziellos, heimatlos, ein einsamer Vogel, der ins Nichts fliegt. All das bin ich und bin doch nichts. So ist mein Leben ohne Dich. Ich sehne mich nach dir, damit Du mich lehrst, wieder zu leben.
Ich versuche mich zu erinnern, wie es war, als wir auf dem windigen Deck der Fortuna waren. Weißt Du noch, wie wir uns gemeinsam abgemüht haben? Wir wurden Teil des Meeres, denn wir wußten beide, daß es das Meer war, das uns zusammengeführt hat. Damals begriff ich, was wahres Glück bedeutet. Nachts segelten wir auf dunklen Wassern, und das Mondlicht zeigte mir Deine Schönheit. Ich betrachtete Dich voller Ehrfurcht und glaubte tief in meinem Herzen, daß wir immer zusammenbleiben würden. Ist es immer so, frage ich mich, wenn zwei Menschen einander lieben? Ich weiß es nicht, aber wenn mein Leben ohne Dich ein Hinweis ist, dann weiß ich wohl die Antwort. Von jetzt an werde ich allein sein.
Ich denke an Dich, ich träume von Dir, ich beschwöre Dein Bild herauf, wenn ich Dich am meisten brauche. Das ist alles, was ich tun kann, doch für mich ist es nicht genug. Es wird nie genug sein, das weiß ich, doch was bleibt mir sonst zu tun? Wenn Du hier wärst, würdest Du es mir sagen. Du wußtest immer die richtigen Worte, um meinen Schmerz zu lindern. Du verstandest es stets, mich glücklich zu machen.
Ist es möglich, daß Du weißt, wie ich mich ohne Dich fühle? In meinen Träumen bilde ich mir ein, daß Du es weißt. Bevor wir zusammenkamen, war mein Leben leer, ohne Sinn. Ich weiß, daß jeder meiner Schritte, seit ich laufen lernte, das Ziel hatte, Dich zu finden. Wir waren füreinander bestimmt.
Doch jetzt, allein in meinem Haus, ist mir bewußt geworden, daß das Schicksal einen Menschen sowohl glücklich als auch unglücklich machen kann, und ich frage mich, warum ausgerechnet ich mich - von allen Menschen in der Welt, die ich hätte lieben können - in jemanden verlieben mußte, der mir genommen werden würde.
Garrett
Nachdem sie den Brief gelesen hatte, lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und berührte mit dem Zeigefinger die Lippen. Die Geräusche aus dem Nachrichtenraum schienen von weither zu kommen. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Brief vom Cape-Cod-Strand und legte ihn neben den anderen auf die Schreibtischplatte. Sie las den ersten Brief, dann den zweiten, las sie dann in umgekehrter Reihenfolge. Sie fühlte sich fast wie ein Voyeur, wie jemand, der ein intimes, geheimnisvolles Ereignis belauscht.
Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch und fühlte sich merkwürdig verwirrt. Sie ging zum Getränkeautomaten, holte eine Dose Apfelsaft heraus und versuchte, Ordnung in ihre Gefühle zu bringen. Plötzlich begannen ihre Knie zu zittern, und sie ließ sich in ihren Stuhl fallen. Hätte sie nicht dicht davor gestanden, wäre sie vielleicht zu Boden gesunken.
Um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, begann sie geistesabwesend das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch zu beseitigen. Kugelschreiber verschwanden in der Schublade, Artikel für irgendwelche Recherchen wurden abgeheftet, Bleistifte gespitzt und in eine Kaffeetasse gestellt, der Locher wurde geleert, die Heftmaschine aufgefüllt. Als sie fertig war, war alles an seinem Platz, bis auf die beiden Briefe, die sie nicht angerührt hatte.
Vor etwas mehr als einer Woche hatte sie den ersten Brief gefunden, und die Worte hatten einen tiefen Eindruck in ihr hinterlassen, obwohl sie sich gesagt hatte, daß sie sich nicht so hineinsteigern durfte. Inzwischen aber schien das unmöglich, nachdem sie auf einen zweiten Brief von derselben Person gestoßen war. Gab es noch mehr? fragte sie sich. Was war das für ein Mann, der solche
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