Weiter weg
ob man am nächsten Morgen früh aufstehen und dem Fallensteller hier in einem «Hinterhalt» auflauern sollte, streichelte Rutigliano den Sprosser. «Er ist so schön», sagte er wie ein kleiner Junge. «Ich kann ihn nicht töten.»
«Was sollen wir tun?», fragte Heyd.
«Wir könnten ihn einfach laufen lassen – vielleicht stirbt er dann von allein.»
«Wohl eher nicht», sagte Heyd.
Rutigliano setzte den Vogel auf den Boden und sah zu, wie er unter einen Dornbusch huschte, eher wie eine Maus als wie ein Vogel. «Vielleicht kann er in ein paar Stunden besser laufen», sagte er, doch das war wenig realistisch.
«Soll ich es entscheiden?», fragte Heyd.
Wortlos ging Rutigliano den Hügel hinauf und verschwand. «Wo ist der Sprosser?», fragte Heyd mich.
Ich zeigte auf den Busch. Heyd griff von beiden Seiten hinein, fing den Vogel und hielt ihn vorsichtig in den Händen. Er sah Conlin und mich an. «Sind wir uns einig?», fragte er auf Deutsch.
Ich nickte, und mit einer Drehung des Handgelenks riss er dem Vogel den Kopf ab.
Die Sonne schien inzwischen über den gesamten Himmel und hatte sein Blau weiß überstrahlt. Als wir erkundeten, wo wir uns am besten auf die Lauer legen sollten, konnten wir kaum noch sagen, seit wann wir unterwegs waren. Sooft ein Zypriot in einem Wagen oder auf einem Feld zu sehen war, duckten wir uns, versteckten uns hinter Felsen oder zwischen Disteln, deren Dornen durch die Hosenbeine drangen, denn wir fürchteten, man könnte den Besitzer des Grundstücks vor uns warnen. Es ging hier nur um ein paar Singvögel, der Hügel war nicht vermint, und doch hatte die glutheiße Stille etwas Bedrohliches, als befänden wir uns in einem Krieg.
Auf Zypern ist die Vogeljagd mit Leimruten mindestens seit dem 16. Jahrhundert weit verbreitet. Für die Bauern waren die Zugvögel eine wichtige Eiweißquelle, und ältere Männer erinnern sich, dass ihre Mütter ihnen sagten, sie sollten hinausgehen und etwas zum Abendessen fangen. In den vergangenen Jahrzehnten sind Ambelopoulia für wohlhabende Stadtbewohner zu einer Art nostalgischer Delikatesse geworden – man bringt ein Glas eingelegter Singvögel als Gastgeschenk mit oder bestellt zu besonderen Gelegenheiten im Restaurant einen Teller gebratene Vögel. Mitte der neunziger Jahre, zwei Jahrzehnte nach dem Verbot der Vogeljagd, wurden bis zu zehn Millionen Singvögel pro Jahr getötet. Als die traditionelle Jagd mit Leimruten durch das Aufspannen großer Netze ergänzt wurde, um die Nachfrage der Restaurants zu decken, ging die zypriotische Regierung, die sich um die Aufnahme in die Europäische Union bemühte, streng gegen die Vogelfänger vor. 2006 war die Zahl der getöteten Vögel auf etwa eine Million gesunken.
Inzwischen ist Zypern Mitglied der Europäischen Union, und seit einigen Jahren sieht man in den Restaurants wieder Schilder, auf denen die eigentlich verbotenen Ambelopoulia angepriesen werden. Die Zahl der Fangplätze nimmt zu. Die zypriotische Jagdlobby, die die Interessen von fünfzigtausend Jägern vertritt, unterstützt in diesem Jahr zwei Vorlagen mit dem Ziel, die Gesetze gegen Wilderei aufzuweichen: Das Anbringen von Leimruten wäre dann nur noch ein Bagatelldelikt, und der Einsatz elektronischer Aufnahmen von Vogelstimmen, mit denen Vögel angelockt werden, stünde gar nicht unter Strafe. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Zyprioten die Vogeljagd zwar ablehnt, dieses Thema aber nicht für besonders wichtig hält. Und viele essen Ambelopoulia gern. Als die Schutzorganisation Cyprus Game Fund in Restaurants, die diese Spezialität anboten, Protestaktionen organisierte, war das Medienecho eindeutig negativ. Man berichtete von einer Schwangeren, der das Essen aus den Händen gerissen wurde.
«Essen ist hier etwas Heiliges», sagte Martin Hellicar, der Kampagnenmanager von BirdLife Cyprus , einer Organisation, die weniger provokant auftritt als das CABS. «Ich glaube nicht, dass jemals einer verurteilt wird, der solche Sachen isst.»
Hellicar und ich verbrachten einen Tag damit, die Gegenden im Südosten der Insel zu besichtigen, wo die Jagd mit Netzen betrieben wird. In jedem kleinen Olivenhain kann man Vogelnetze aufstellen, aber die wirklich großen Fangplätze liegen in Akazienplantagen. Diese Bäume sind auf Zypern nicht heimisch, und ihre Bewässerung lohnt sich nur, wenn man dort Vögel fangen will. Überall gibt es solche Akazienpflanzungen. Zwischen den Baumreihen werden lange Streifen aus billigem Teppichboden
Weitere Kostenlose Bücher