Weiter weg
ein anderer Mensch werden.
Zuerst dran glauben musste die Hauptfigur des Romans. Ein Mann Mitte dreißig namens Andy Aberant. Er hatte von Anfang an, als ich mir vorgestellt hatte, dass er für einen Mord, den seine Frau begangen hatte, im Gefängnis saß, zum Inventar des Romans gehört, hatte seitdem zahllose Metamorphosen durchlaufen und war schließlich als Anwalt der US-Regierung geendet, der gegen Insidergeschäfte mit Aktien ermittelt. Ich hatte in der dritten Person über ihn geschrieben und dann, umfänglich und völlig erfolglos, in der ersten. Dabei hatte ich mir öfter mal längere und vergnügliche Ferien von Andy Aberant gegönnt, um über zwei andere Figuren zu schreiben, Enid und Alfred Lambert, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und einige Ähnlichkeit mit meinen Eltern hatten. Die Kapitel über sie waren schnell und – im Vergleich mit meinen qualvollen Versuchen, über Andy Aberant zu schreiben – mühelos aus mir herausgeflossen. Da Andy nicht der Sohn der Lamberts war und aus komplizierten Plot-Gründen nicht ihr Sohn sein konnte , war ich nun damit beschäftigt, noch kompliziertere Wege zu erfinden, um seine Geschichte mit ihrer zu verknüpfen.
Auch wenn mir jetzt klar ist, dass Andy einfach nicht in das Buch gehörte, war es mir damals doch alles andere als klar. Ich hatte ein paar wirklich schlimme Ehejahre damit verbracht, es zu einer intimen und enzyklopädischen Kenntnis von Depression und Schuld zu bringen, und da Andy Aberant durch seine Depression und Schuld definiert war (insbesondere in Bezug auf Frauen und ganz besonders in Bezug auf deren biologische Uhr), schien es undenkbar, mir mein hart erarbeitetes Wissen nicht zunutze zu machen und ihn nicht im Buch zu lassen. Das einzige Problem war – wie ich in meinen Roman-Notizen wieder und wieder schrieb –, dass ihm der Humor fehlte. Er war verstörend und verklemmt und abseitig und deprimierend. Sieben Monate lang versuchte ich beinahe jeden Tag, ein paar Andy-Seiten zu schreiben, die mir gefielen. Dann rang ich, in meinen Notizen, zwei weitere Monate darum, ob ich ihn nun abservieren sollte oder nicht. Was genau ich in all diesen Monaten dachte und fühlte, erschließt sich mir heute so wenig wie das Elend einer Grippe, nachdem man sich von ihr erholt hat. Ich weiß nur, dass ich ihn schließlich losließ, weil ich (1) völlig erschöpft war, (2) meine Depression generell abklang und (3) die Schuldgefühle gegenüber meiner Frau plötzlich nachließen. Ein gehörig schlechtes Gewissen hatte ich immer noch, doch hatte ich genug Abstand gewonnen, um erkennen zu können, dass ich nicht an allem schuld war. Außerdem hatte ich mich kürzlich in eine Frau verliebt, die ein kleines bisschen älter war als ich, weshalb ich mir, so lächerlich es klingen mag, meiner Frau gegenüber weniger schurkisch vorkam, weil ich sie in ihren späten Dreißigern kinderlos verlassen hatte. Meine neue Freundin kam aus Kalifornien und verbrachte eine Woche bei mir in New York, und am Ende dieser extrem glücklichen Woche war ich bereit zu erkennen, dass für Andy Aberant im Buch kein Platz war. In meinen Notizen malte ich ihm einen kleinen Grabstein, den ich mit einem Grabspruch aus Faust II versah: «Den können wir erlösen.» Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich damals verstand, was ich damit meinte. Mittlerweile aber ergibt es einen Sinn.
Ohne Andy blieb ich allein mit den Lamberts und ihren drei erwachsenen Kindern zurück, die schon die ganze Zeit an den Rändern des Romans herumgespukt hatten. Ich überspringe, welche Kontraktionen und Subtraktionen er noch durchlaufen musste, um schreibbar zu werden, und erwähne nur zwei weitere Hindernisse, die ich zumindest teilweise überwinden musste, um zu dem Menschen zu werden, der die Geschichte schreiben konnte.
Das erste war die Scham. Mit Mitte dreißig schämte ich mich für so ziemlich alles, was ich in den fünfzehn vorangegangenen Jahren meines Lebens getan hatte. Ich schämte mich dafür, so jung geheiratet zu haben, schämte mich für meine Schuldgefühle, schämte mich für die Jahre moralischer Verwirrtheit auf dem Weg zur Scheidung, schämte mich für meine sexuelle Unerfahrenheit, schämte mich für die lange Zeit meiner gesellschaftlichen Isolation, schämte mich dafür, was für eine peinliche und engstirnige Mutter ich hatte, schämte mich, so ein Sensibelchen und schutzloser Mensch zu sein statt eines distanzierten, kontrollierten und intellektuellen Felsens in der
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