Weiter weg
selbst war.
Der andere wirklich hilfreiche Kommentar kam ein paar Monate später von meinem Freund David Means, dem ich gestand, dass mich Chip Lamberts Sexualleben in den Wahnsinn treibe. David ist ein echter Künstler, und seine hellsichtigsten Kommentare sind meistens zugleich seine dunkelsten und rätselhaftesten. Zum Thema Scham sagte er zu mir: «Man schreibt nicht durch die Scham hindurch, man schreibt um sie herum.» Ich könnte Ihnen immer noch nicht erklären, was genau er mit diesen kontrastierenden Präpositionen meinte, doch mir war augenblicklich klar, dass jene beiden frühen McEwan-Romane Beispiele dafür waren, wie jemand durch die Scham hindurch schrieb, und dass meine Aufgabe mit Chip Lambert darin bestand, auf irgendeinem Weg die Scham in die Erzählung hineinzubringen, ohne von ihr überwältigt zu werden: Es musste mir gelingen, die Scham als Gegenstand zu isolieren und unter Quarantäne zu stellen, idealerweise als Gegenstand einer Komödie, statt sie jeden einzelnen Satz durchdringen und vergiften zu lassen. Von dort war es ein kleiner Schritt zu dem Einfall, dass Chip Lambert während des Techtelmechtels mit seiner Studentin ein illegales Medikament nimmt, dessen primäre Wirkung es ist, Scham zu unterdrücken. Kaum hatte ich diese Idee und konnte endlich anfangen, über die Scham zu lachen, schrieb ich den restlichen Chip-Teil in ein paar Wochen und den Rest des Romans innerhalb eines Jahres.
Das größte verbliebene Problem in diesem Jahr war die Loyalität. Es stellte sich mir besonders, als ich das Kapitel über Gary Lambert schrieb, der eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit mit meinem ältesten Bruder aufwies. Da gab es zum Beispiel Garys Projekt: ein Album mit seinen liebsten Familienfotos. Mein Bruder war auch mit einem solchen Projekt beschäftigt. Und weil mein Bruder das sensibelste und gefühlvollste Mitglied der Familie ist, wusste ich nicht, wie ich Details aus seinem Leben verwenden konnte, ohne ihn damit zu verletzen und unsere gute Beziehung zu gefährden. Ich fürchtete seinen Zorn, fühlte mich schuldig, weil ich über Dinge aus dem wirklichen Leben lachte, die er gar nicht komisch fand, kam mir illoyal vor, weil ich private Familienangelegenheiten in einer Erzählung öffentlich machte, und fand es rundum moralisch dubios, mir das Privatleben eines Nicht-Schriftstellers für meine professionellen Zwecke anzueignen. Aus all solchen Gründen hatte mir «autobiographische» Literatur in der Vergangenheit widerstrebt. Und doch waren diese Details zu bedeutsam, um sie nicht zu verwenden, und ich hatte ja vor meiner Familie auch nie verborgen, dass ich als Schriftsteller ihnen, egal was sie sagten, gut zuhörte. So drehte und wendete ich das Problem und diskutierte es schließlich mit einer klugen älteren Freundin. Zu meiner Überraschung wurde sie wütend auf mich und hielt mir meinen Narzissmus vor. Was sie sagte, ähnelte der Botschaft meiner Mutter an unserem letzten gemeinsamen Nachmittag. Sie sagte: «Glaubst du, das Leben deines Bruders dreht sich um dich ? Glaubst du nicht, dass er ein eigenes erwachsenes Leben führt, voll von Themen, die wichtiger sind als du? Glaubst du, deine Macht ist so groß, dass etwas, was du in einem Roman schreibst, ihm schaden kann?»
Alle Loyalität, ob im Schreiben oder anderswo, ist erst dann bedeutsam, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Sich selbst als Schriftsteller treu zu sein ist am schwersten, wenn man gerade erst angefangen hat – wenn einem das Schriftstellerdasein noch nicht genug öffentliche Reaktion eingetragen hat, um die eigene Loyalität ihm gegenüber zu rechtfertigen. Der Wert eines guten Verhältnisses zu Freunden und Familie ist offensichtlich und konkret; der Wert, über sie zu schreiben, ist immer noch größtenteils spekulativ. Es kommt jedoch ein Punkt, an dem sich die Werte angleichen. Und dann lautet die Frage: Will ich es riskieren, einen Menschen, den ich liebe, zu verlieren, um weiter der Schriftsteller werden zu können, der ich sein muss? Lange Zeit, während meiner Ehe, war meine Antwort darauf: nein. Selbst heute gibt es Beziehungen, die für mich so wichtig sind, dass es mir eher Schmerzen bereitet, um sie herum statt durch sie hindurch zu schreiben. Doch ich habe gelernt, im Risiko autobiographischen Schreibens eine Chance zu sehen, nicht nur für das Schreiben, sondern auch für die Beziehungen: Man kann nämlich seinem Bruder oder seiner Mutter oder seinem besten Freund tatsächlich einen
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