Weiter weg
auf Höhe des Fahrzeugs rechts von ihm bleibt, nicht vor Wut kochen. Trotzdem: Alles in unserer Kommerzkultur sagt dem plappernden Fahrer, dass er im Recht ist, und uns anderen, dass wir im Unrecht sind – dass wir es nicht schaffen, das supergünstige Angebot von Freiheit, Mobilität und unbegrenzten Minuten zu nutzen. Die Kommerzkultur sagt uns, dass wir nur deshalb auf den plappernden Fahrer sauer sind, weil wir nicht so viel Spaß haben wie er. Was ist denn los mit uns? Warum können wir nicht ein wenig locker werden und selber zum Handy mit unserem Freunde-und-Familien-Tarif greifen und selber mehr Spaß haben, da auf der Überholspur?
Gesellschaftlich Retardierte verhalten sich nicht plötzlich erwachsener, wenn Gesellschaftskritiker unter Gruppendruck zum Schweigen gebracht werden. Sie werden nur unverschämter. Eine gegenwärtig sich verschlimmernde Landplage ist der Käufer, der während des Bezahlvorgangs an der Kasse einfach weitertelefoniert. Die typische Kombination in meinem Viertel in Manhattan ist eine junge Weiße, die gerade an irgendeinem teuren College ihr Examen gemacht hat, und eine Schwarze oder Hispanierin aus der Nachbarschaft, ungefähr im selben Alter, aber weniger begünstigt. Natürlich ist die Erwartung, dass die Kassiererin sich einem widmet oder sich darüber freut, wie gewissenhaft man gewillt ist, sich ihr zu widmen, eine liberale Eitelkeit. Angesichts ihrer monotonen und schlecht bezahlten Arbeit darf sie einen durchaus mal gelangweilt oder gleichgültig behandeln; schlimmstenfalls ist sie dann unprofessionell. Das entbindet einen jedoch nicht von der moralischen Pflicht, sie als Person zur Kenntnis zu nehmen. Und auch wenn es stimmt, dass es manche Kassiererinnen offenbar nicht stört, ignoriert zu werden, sind doch auffallend viele sichtlich irritiert, verärgert oder traurig, wenn eine Kundin sich nicht einmal für zwei Sekunden von ihrem Telefon losreißen kann, um sich ihr zuzuwenden. Selbstredend ist es der Übeltäterin, so wie dem plappernden Fahrer auf dem Highway, überhaupt nicht bewusst, dass jemand ihretwegen sauer ist. Meiner Erfahrung nach bezahlt sie, je länger die Schlange, ihren Einkauf von 1,98 Dollar desto wahrscheinlicher mit der Kreditkarte. Und zwar nicht mit einer Kreditkarte mit einem tap-and-go -Mikrochip, bei dem die Karte kurz auf ein Lesegerät gehalten wird, sondern mit einer Kreditkarte der Sorte Auf-die-ausgedruckte-Quittung-warten-und-dann-(erst-dann)-mit-zombieartiger-Umständlichkeit-das-Handy-vom-einen-Ohr-zum-anderen-verlagern-und-das-Handy-zwischen-Ohr-und-Schulter-klemmen-und-dabei-die-Quittung-unterschreiben-und-dabei-weiter-Zweifel-äußern-ob-ihr-wirklich-danach-ist-sich-am-Abend-mit-diesem-Morgan-Stanley-Typen-Zachary-in-der-Weinbar-Etats-Unis-zu-treffen.
Sicher, eine positive gesellschaftliche Konsequenz aus diesem sich verschlimmernden Benehmen gibt es. Die abstrakte Vorstellung zivilisierter öffentlicher Räume als rarer Ressourcen, die zu verteidigen sich lohnt, mag praktisch tot sein, dennoch findet sich Trost in den flüchtigen Ad-hoc-Mikrogemeinschaften Mitleidender, die schlechtes Benehmen hervorbringt. Durch das Autofenster sehen, wie ein anderer Fahrer vor Wut kocht, oder dem Blick einer angesäuerten Kassiererin begegnen und mit ihr gemeinsam den Kopf schütteln: Da kommt man sich etwas weniger allein vor. Weswegen von allen schlimmer werdenden Varianten schlechten Handy-Benehmens diejenige mich am meisten ärgert, die vermeintlich kein Opfer hat und deshalb niemanden sonst zu ärgern scheint. Ich spreche von der Angewohnheit, vor zehn Jahren noch ungebräuchlich, heute allgegenwärtig, Handygespräche mit einem gekrähten «LIEB DICH!» zu beenden. Oder, noch bedrückender und schriller: «ICH LIEBE DICH!» Da möchte ich dann am liebsten nach China auswandern, wo ich die Sprache nicht verstehe.
Die Handy-Komponente meines Ärgers ist einfach. Ich will eben nicht, während ich bei Gap Socken kaufe oder in einer Ticketschlange stehe und meinen privaten Gedanken nachhänge oder versuche, in einem Flugzeug, das gerade bestiegen wird, einen Roman zu lesen, imaginär in die klebrige Familienwelt eines Menschen in meiner Umgebung hineingezogen werden. Das Wesen der Scheußlichkeit des Handys als gesellschaftliches Phänomen – die schlechte Nachricht, die schlecht bleibt – ist eben, dass es ermöglicht und geradezu dazu ermutigt, das Private und Individuelle dem Öffentlichen und Gemeinschaftlichen aufzudrängen. Und es gibt
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