Weiter weg
keine großkalibrigere Äußerung als «Ich liebe dich» – nichts Schlimmeres, was eine Einzelperson einem gemeinschaftlichen öffentlichen Raum aufdrängen kann. Nicht einmal «Fick dich, du Arsch» ist zudringlicher, da es durchaus einmal von einem Wütenden in der Öffentlichkeit geschrien werden kann, und ebenso gut kann es an einen Fremden gerichtet sein.
Elisabeth, eine gute Freundin, versichert mir, dass die neue Landplage der «Lieb dich»s eine gute Sache sei: eine gesunde Reaktion auf die repressive Familiendynamik unserer protestantischen Kindheit einige Jahrzehnte zuvor. Was soll denn schlimm daran sein, fragt Elisabeth, seiner Mutter zu sagen, dass man sie liebt, oder von ihr zu hören, dass sie einen liebt? Wenn nun einer der beiden stirbt, bevor man noch einmal miteinander sprechen kann? Ist es nicht schön, dass man sich dergleichen heutzutage so frei sagen kann?
Ich räume hiermit die Möglichkeit ein, dass ich, verglichen mit allen anderen in einer Abflughalle, ein außergewöhnlich kalter und liebloser Mensch bin und die jähe, überwältigende Empfindung, jemanden zu lieben (einen Freund, eine Ehefrau, einen Vater, eine Schwester), die für mich eine derart wesentliche und ungeheure Empfindung ist, dass ich Mühe habe, die Worte, die sie am besten ausdrücken, nicht zu verschleißen, für andere offenbar so gebräuchlich und routinemäßig und leicht zu haben ist, dass sie an einem einzigen Tag ohne nennenswerten Kräfteverlust immer wieder aufs Neue erfahren und bekundet werden kann.
Möglich ist allerdings auch, dass eine allzu häufige habituelle Wiederholung Wörter ihres Sinns beraubt. Joni Mitchell verwies in der letzten Strophe von Both Sides Now auf das feierliche Erstaunen, «Ich liebe dich» right out loud , «ganz laut» zu sagen: ein so intensives Gefühl stimmlich hervorzubringen. Stevie Wonder singt siebzehn Jahre später in einem Lied davon, jemanden an einem stinknormalen Nachmittag anzurufen, um ihm «I love you» zu sagen, und da er Stevie Wonder ist (wahrscheinlich ein liebevollerer Mensch als ich), kann ich ihm die Aufrichtigkeit auch beinahe abnehmen – jedenfalls bis zur letzten Zeile des Chors, wo er es nötig findet hinzuzufügen: «And I mean it from the bottom of my heart.» Die Beteuerung von Aufrichtigkeit ist mehr oder weniger die Diagnose von Unaufrichtigkeit.
Und so kann ich, während ich bei Gap meine Socken kaufe und die Mami hinter mir in der Schlange in ihr kleines Telefon «Ich liebe dich» schreit, nicht umhin zu glauben, dass da etwas inszeniert wird, überinszeniert, öffentlich inszeniert, trotzig aufgedrängt wird. Ja, viel Familiäres, das nicht für den öffentlichen Gebrauch gedacht ist, wird öffentlich geschrien, ja, die Leute können sich nicht bremsen. Aber der Satz «Ich liebe dich» ist zu wichtig und befrachtet, und er wird als Schlusssatz zu bewusst benutzt, als dass ich glauben könnte, ihn rein zufällig mitzuhören. Hätte die Liebeserklärung der Mutter ein echtes, persönliches, emotionales Gewicht, würde sie dann nicht doch ein wenig darauf achten, es vor öffentlichem Mithören zu schützen? Wenn sie wirklich meinte, was sie da sagte, from the bottom of her heart , müsste sie es dann nicht leise sagen? Wenn ich als Fremder mithöre, habe ich das Gefühl, der aggressiven Behauptung eines Anspruchs teilhaftig zu werden. Zumindest scheint dieser Mensch mir und allen anderen in der näheren Umgebung zu sagen: « Meine Emotionen und meine Familie sind mir wichtiger als eure gesellschaftliche Ruhe.» Und oft genug argwöhne ich auch: «Ihr sollt alle wissen, dass ich , anders als viele, einschließlich meines kalten Schweins von Vater, ein Mensch bin, der seinen Nahestehenden immer sagt, dass er sie liebt.»
Oder ist es womöglich so, dass ich in meinem zugegeben jetzt ziemlich übergeschnappt klingenden Ärger das alles nur projiziere?
Am 11. September 2001 wurde das Mobiltelefon erwachsen. An dem Tag prägte sich unserem kollektiven Bewusstsein das Bild des Handys als Übermittler von Intimität zwischen Verzweifelten auf. Es fällt schwer, nicht in jedem zu lauten «Ich liebe dich», das ich heute höre, ebenso wie in der allgemeineren nationalen Orgie des Verbundenseins – des Imperativs für Eltern und Kinder, einmal, zweimal, fünf- oder zehnmal telefonisch miteinander verbunden zu sein –, ein Echo jener schrecklichen, vollkommen angemessenen, herzzerreißenden «Ich liebe dich»s zu hören, die in den vier todgeweihten
Weitere Kostenlose Bücher