Weiter weg
Kinder in Nordamerika aufwachsen. Ji und seine Frau hätten sie schon immer in einer, wie er es nannte, «westlichen Umgebung» groß werden lassen wollen, und der letzte Anstoß sei vor zwei Jahren gekommen, kurz nachdem Ji zum Modellbürger wurde. Wegen Chinas Bevölkerungspolitik kann ein Modellbürger eines nicht, nämlich mehr als ein Kind haben. Ji hatte schon einen Jungen aus einer früheren Ehe und seine Frau eine Tochter ebenfalls aus einer früheren Ehe. Sie erwarteten nun ihr erstes gemeinsames Kind, was für Ji dann das zweite Kind gewesen wäre. Eines Abends, seine Frau war im sechsten Monat, beschlossen die beiden, dass sie nach Kanada gehen sollte, um das Kind dort zu bekommen. Ein Vierteljahr später kam es in Vancouver zur Welt, und Ji konnte weiterhin Modellbürger bleiben.
Über den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Umweltschutz in Entwicklungsländern gibt es zwei konkurrierende Theorien. Die eine, im Hinblick auf Geschäftsinteressen sehr bequeme, besagt, dass eine Gesellschaft sich erst dann Gedanken über die Umwelt macht, wenn es ihr gestattet war, den schmutzigen Weg zu Reichtum, Muße und den Ansprüchen der Mittelschicht zu gehen. Der anderen Theorie zufolge hat die entwicklungsmäßige Reife die westliche Gesellschaft nicht eben davon abgehalten, mit Ressourcen Raubbau zu treiben und die Natur zu zerstören; die Verfechter dieser Theorie, die apokalyptischen Schwarzmaler, raufen sich die Haare, wenn sie an China, Indien und Indonesien denken, die dem westlichen Vorbild nacheifern.
Verfechter der «Erst Wachstum, dann Umwelt»-Theorie könnten sich davon ermutigt fühlen, wie rasch das Auftauchen westlich gesinnter Naturfreunde auf die Explosion von Chinas BIP folgte. Das Problem ist jedoch, dass China so wenig gutes Land hat und sich so rasant verändert. Eine neue Generation mag Naturschutz lernen, aber nicht so schnell, wie die Lebensräume verschwinden. Schon jetzt werden Chinas Nationalparks von einer zunehmend mobilen Mittelschicht zu Tode geliebt. In Nordamerika kann man noch immer mit einer Busladung Schüler in ein Naturreservat fahren und sie einen Tag oder eine Woche lang Tiere beobachten lassen. In Shanghai, dessen Bevölkerung bald zwanzig Millionen betragen wird, gibt es nur ein zugängliches Naturschutzgebiet – Dongtan –, auf der Schwemmlandinsel Chongming im Jangtse gelegen. Das Reservat wird gut geführt, ist aber stark von Fischern und Verschmutzung stromaufwärts belastet. Das ganze nördliche Drittel ist von vogelfeindlichem invasivem Reisgras umschlossen (einer Legende zufolge wurde das Gras auf Drängen von Premier Zhou Enlai eingeführt, der seine Experten beauftragt hatte, eine Pflanze ausfindig zu machen, die Chinas Fläche vergrößern könnte), und an seinem Westrand wird ein riesiger Feuchtgebietpark errichtet, der auch eine «Ferienhauszone» und einen «Feuchtgebiet-Golfplatz» enthält. Mit Beginn des Jahres 2010 soll ein System aus Brücken und Tunneln die Insel direkt mit dem Zentrum Shanghais verbinden. Dann wird es möglich sein, jedes Shanghaier Kind für einen Tag in die Natur nach Dongtan auf Chongming zu karren, allerdings würden die Busse dann dicht an dicht über dem Jangtse stehen.
Erfolgreiche chinesische Bemühungen um den Umweltschutz übergehen heutzutage oft die breite Öffentlichkeit und zielen stattdessen direkt auf das Eigeninteresse der Regierung ab. In Shanghai versucht Yifei Zhang, der ehemalige Journalist und jetzige WWF-Mitarbeiter, die Stadtregierung dazu zu bewegen, über eine vertretbare Obergrenze der Einwohnerschaft und ihre künftigen Trinkwasserquellen nachzudenken. Die Stadt sieht dafür gegenwärtig das Mündungsdelta des Jangtse vor, doch droht der steigende Meeresspiegel, das Wasser zu versalzen. Yifei möchte die Stadt dazu bringen, eine Alternative zu entwickeln, indem sie nämlich den Nebenfluss Huangpu reinigt und sein Einzugsgebiet wiederherstellt – wodurch als zusätzlicher Nutzen ein neues Wildreservat entstehen würde. «Wir verzweifeln nie, weil wir keine hohen Erwartungen haben», sagte Yifei. Flussaufwärts von Shanghai, wo Hunderte Seen dauerhaft vom Jangtse abgetrennt wurden, setzte der WWF sich 2002 zum Ziel, die Regierung von Hubei zu überreden, wenigstens einen der Seen wieder mit dem Jangtse zu verbinden. «Keiner glaubte, das könne möglich sein», sagte Yifei. «Es war nur ein Traum – ein Luftschloss. Aber wir gründeten eine Demonstrationsstelle, und nach zwei, drei Jahren hatten wir
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