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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Abendessen mit seinem Chef hatten, aber ich konnte es nicht fassen, dass das beste Golf meines Lebens schon nach dem dritten Loch zu Ende sein sollte. Ich hielt Xu meinen Putter hin und sagte, er solle es einmal versuchen, zu putten, Golf zu spielen. Prüfend fasste er den Schläger am Griff und kicherte. Ich warf einen Ball drei Meter von der Fahne hin. Er machte ein paar wilde Schwünge zu ihm hin, hob dann den Schläger ans Gesicht und kicherte weiter. Ich meinte, er solle sich doch näher an den Ball stellen. Er schlug noch einmal danach, als wäre der Ball ein kleines Tier, dem er Angst einjagen, das er aber nicht töten wollte. Der Ball rollte ein paar Zentimeter. Xu hielt die Hand vors Gesicht und kicherte hilflos. Dann riss er sich zusammen und schlug den Ball kräftiger. Der hoppelte los, traf den Stock und versteckte sich im Loch. Xu stieß einen hohen Schrei aus und krümmte sich, hysterisch kichernd.
    Wir sprachen nicht viel, als wir ins verstopfte Zentrum von Ningbo zurückfuhren. Ich schaute trübselig in die ausgedehnte Vorabenddämmerung, die bodennahen Dinge lagen schon im Zwielicht, die Sonne stand noch recht hoch am Himmel, aprikosenfarben, man konnte gefahrlos hineinschauen. Bei den Baustellen, dem Verkehr und der Betriebsamkeit in alle Richtungen – jeder in China packt noch immer mit bewundernswertem Fleiß, wenn nicht gar Optimismus an – ergriff mich wieder das Gefühl, das ich an meinem ersten Abend in Shanghai gehabt hatte. Aber was ich da als Fortgeschrittenheit hatte beschreiben wollen, war, wie ich jetzt fand, eher schlichte Verspätung: die Traurigkeit der Moderne, eine Phase hinausgezögerter, verstörender Erhellung vor Einbruch der Dunkelheit.

    Ji, der Hersteller der Papageitaucher, war in Subei aufgewachsen, nicht weit vom Naturreservat Yancheng. Seine Eltern hatten sich als Teenager kurz vor der Kulturrevolution in Nanjing kennengelernt. Wie so viele junge Städter ihrer Generation wurden sie aufs Land geschickt, damit sie von den Bauern den Wert der Arbeit lernten. In Subei bauten sie eine Hütte aus Lehm und Stroh, als Fenster dienten ausgesparte Schlitze. Ji wurde 1969 geboren und zwei Jahre lang von seinen Großeltern in Nanjing aufgezogen, aber seine Mutter vermisste ihn und holte ihn zurück nach Subei. Jedes Jahr im Frühling, wenn das Familienschwein geschlachtet und gegessen war, wurde der Hunger der Familie so groß, dass sie zu nichts anderem fähig war, als wochenlang im Bett zu liegen, sich von Reisschleim zu ernähren und auf die Weizenernte zu warten.
    Mit vierzehn bewarb sich Ji um einen der dreihundert Plätze bei der örtlichen Oberschule und wurde auf einer Liste von fünfzehnhundert Bewerbern die Nummer 302. Aber dann wurden drei Schüler vor ihm disqualifiziert, und so rutschte er hinein. Ein Jahr danach rutschte er in eine bessere Oberschule in Nanjing, und zwei Jahre danach rutschte er in die Universität Chengdu. Dort geriet er in die Reformbewegung der Studenten, marschierte auf der Straße, protestierte gegen Korruption und hatte – wieder mal – Glück, weil er im Juni 1989, beim Massaker auf dem Tiananmen-Platz, nicht in Peking war. Wie viele andere begabte Studenten jener Zeit wandte er sich von der Politik ab und den Geschäften zu und landete schließlich in der Spielwarenabteilung einer Import-Export-Firma in der Provinz. 2001 liehen er und seine Frau sich Geld von Freunden, erhielten eine Bankbürgschaft von Hallmark Cards und gründeten ihren eigenen Betrieb. Heute besitzen sie vier Fabriken und beschäftigen zweitausend Menschen. Zu ihren Kunden gehören Hallmark, Gund und Russ Berrie – die oberste Marktliga –, und unlängst wurde Ji von seiner Gemeinde zum Modellbürger in der Kategorie Arbeitsintensive Industrie ernannt.
    «Ich bin ein wahrer Glückspilz», sagte Ji. Er hatte sich bereit erklärt, mir seine Zentrale zu zeigen, vorausgesetzt, ich verwendete nicht seinen wahren Namen. («Warum soll ich für mich werben?», sagte er. «Wenn ich expandieren will, brauche ich nur zu erwähnen, dass wir Hallmark Cards beliefern.») Seine Büroräume lagen an einem hübschen, baumgesäumten Fluss mit Betonbett in einer Industrievorstadt in Ostchina. Ji schritt fröhlich federnd aus, als er mich durch die kleinen Produktionsanlagen führte, die er dort noch hat. Während der vergangenen vier Jahre ist ein Großteil seiner Produktion ins Landesinnere gezogen, in die Provinz Anhui, wo die Arbeiter, wie er sagte, erheblich niedrigere Löhne

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