Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
sich rasch veränderte, als der Wind durch die Bäume rauschte. Sie hatte von jenem letzten Tag mit ihrem Bruder geträumt, aber im Schmerz der Erinnerung lag jetzt auch Verständnis, denn Anthony war mit dabei gewesen. Sarah erinnerte sich, wie sie aufgeblickt hatte, als er angefahren kam.
Es war so, als ob Wangallon selbst ihn ihr geschickt hätte, weil die Farm wusste, wie sehr er gebraucht würde, wie allein sie sich eines Tages fühlen würde. Wangallon und Sarah brauchten beide seine Liebe und seinen Schutz. Vielleicht hatten ja die Vorfahren bei seiner Einstellung die Hand im Spiel gehabt. Sarah stand auf und huschte auf Zehenspitzen zu ihrer Kommode. Sie öffnete die oberste Schublade und streifte sich den goldenen Armreif über das Handgelenk. Im Mondlicht schimmerte er wie das schönste Schmuckstück, das sie je gesehen hatte. Zum ersten Mal wurde ihr klar, wie friedlich das alte Haus war. Alles war still. Sie ging wieder ins Bett. Morgen würde sie viele Aufnahmen machen.
» Ich brauche dich«, flüsterte sie der schlafenden Gestalt neben sich zu. Liebe war als Wort nicht umfassend genug für ihre Welt, merkte sie, denn wenn Anthony ihre Liebe war, verkörperte Wangallon ihre Seele. Anthony drehte sich um, nahm sie in die Arme und zog sie an sich.
Eine Eule blickte in Richtung ihres schwach erleuchteten Zimmers. Stunden vor Tagesanbruch verließ sie ihren Platz in dem hohen Eukalyptusbaum, breitete die Flügel aus und flog über die Farm. Der Nachtwind rauschte, und sie schwebte auf eine Baumgruppe zu, deren Wipfel sich schützend über eine Lichtung bogen. Die Eule segelte herunter durch das dichte Laub, das den starken Duft von Eukalyptus verströmte, und landete auf dem bröckelnden Grabstein von Hamish Gordon. Zufrieden schlief sie ein, als leichter Regen zu fallen begann und die Erde die Tropfen durstig aufsaugte.
Sommer, 1905
Wangallon Station
Hamish Gordon lag in seiner Hängematte auf der Veranda. Ein Bein baumelte heraus und der Fuß berührte die Holzdielen. Ab und zu stieß er sich leicht ab und blickte auf den blauen Himmel und den grünen Rasen, der von einer mit Blüten übersäten Bougainvillea-Hecke umgeben war. Hinten im Garten standen Claires Eukalyptusbäume mit der faserigen Rinde hoch zwischen den Leopardenbäumen und den Zitronenbäumen, und der Rasen, auf dem so viele Sommerfeste und Picknicks stattfanden, war üppig und grün.
Er konnte sich kaum noch vorstellen, wie jämmerlich und braun der Garten vor vielen Jahren bei ihrer Ankunft ausgesehen hatte. Auch das Haus war nicht wiederzuerkennen, denn es war nach ihren Anweisungen vergrößert und neu eingerichtet worden. Jetzt hatte es Stuckdecken, weitläufige Veranden,Wohnräume mit Kristalllüstern und Möbel mit Brokatbezügen.
Es war ein schöner Frühlingstag, wie es viele in seinem Leben gegeben hatte. Bis jetzt war es ihm noch nie gelungen, sie zu genießen. Heute jedoch war es anders. Er hatte Geburtstag, das heißt, er glaubte es zumindest.
» Zum Teufel, einen freien Tag alle paar Monate. Wen kümmert das schon?«
» Mich, mein Liebling.«
Claire Whittaker Gordon schlenderte mit königlicher Eleganz über die Veranda. Sie schenkte ihrem Mann ein Glas Eistee ein, bevor sie sich in ihrem fließenden, weißen Musselinkleid in einem Korbsessel niederließ. Um den Hals trug sie eine Perlenkette und am Handgelenk einen gehämmerten goldenen Armreif, den sie erst an diesem Morgen gefunden hatte.
» Du hast Geheimnisse vor mir, mein Lieber.« Claire hob das Handgelenk mit dem Armreif.
Hamish starrte sie an. Dann sagte er: » Er hat Rose gehört. Wo hast du ihn gefunden?«
» In einer alten Truhe im Schulzimmer, zusammen mit ein paar anderen persönlichen Dingen von ihr. Der Raum wird schon so lange nur als Lagerraum benutzt, dass ich fand, ich sollte ihn langsam mal für Angus vorbereiten. Massen alter Schulbücher stehen dort. Ich wollte einfach ein bisschen aufräumen, da alles schon so alt ist. Angus wird ja neue Schulbücher brauchen.«
Hamish wandte den Blick vom Armreif ab. » Eine gute Idee. Es tut mir leid, aber ich wusste nicht, dass noch persönliche Sachen von Rose im Haus sind. Nach ihrem Tod habe ich Mrs Cudlow gebeten, alles wegzuwerfen.«
» Nun, wenn du die Sachen nicht im Haus haben willst, werde ich eins der Mädchen bitten, aufzuräumen.«
» Ja, gut.« Die vielen Jahre seit Roses Tod zählten auf einmal nicht mehr, und er sah ihr Gesicht so deutlich, als ob sie vor ihm stünde.
» Hamish, mein
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