Weites Land der Träume
immer so.« Er klang wieder ziemlich vergnügt.
»Ja, das ist immer so«, sagte Bea bedrückt. »Und dein Egoismus hat jedes Mal Schaden angerichtet.«
»Die Kinder lieben dich beide sehr«, fügte Thomas hinzu und drückte Bea einen lautstarken Kuss auf die Wange.
Trauer überwältigte Alice, als sie erkannte, dass dieser Mann nur noch dem Namen nach ihr Vater war. Offenbar fühlte er sich nicht mehr für sie und Ben verantwortlich und schob sie ab, wie es ihm oder einer unbekannten Freundin in den Kram passte. Nur ihr neu gewonnener Seelenfrieden und die Freiheit, die sie auf Sherrys Rücken empfand, milderten die niederschmetternde Wirkung dieser Erkenntnis ab. Dennoch machte es ihr schwer zu schaffen. Sie liebte ihn – immerhin war er ihr Dad –, aber was war mit seinen Versprechungen, er werde seiner Prinzessin ein Schloss bauen? Was hatten sie und Ben bloß verbrochen, dass er das Bedürfnis hatte, ihre Existenz zu verheimlichen? Sie verstand es nicht, aber als sie da in der warmen Nachtluft stand, fasste sie den festen Entschluss, sich, koste es, was es wolle, nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sie gekränkt hatte. Sie würde lernen, seine neue Freundin zu mögen und alles in ihrer Macht Stehende tun, damit er auf sie und Ben stolz sein konnte. Außerdem würde sie nie wieder etwas von einem anderen Menschen erwarten oder sich auf ihn verlassen. Als sie zurück ins Bett kroch, wünschte sie, die letzten Stunden aus ihrem Gedächtnis streichen zu können. Doch sie würde sich für den Rest ihres Lebens an dieses Weihnachtsfest erinnern. Eine seltsame Ruhe überkam sie.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag erklärte Thomas Alice und Ben in so knappen Worten wie möglich, er habe eine Freundin, die ihm sehr viel bedeute und mit der er einen sechsmonatigen Urlaub verbringen wolle. Ben, der darauf brannte, zum Angeln zu gehen, hörte nur mit halbem Ohr hin, während Alice höflich nickte, ihren Vater rasch umarmte und sich ihre innere Aufgewühltheit nicht anmerken ließ. Thomas meldete Bea, alles habe wunderbar geklappt. In seiner Erleichterung darüber, dass keines der Kinder eine Szene gemacht hatte, war ihm gar nicht aufgefallen, wie Alice sich zurückzog. Nur Bea bemerkte den gezwungenen Unterton und die gespielte Fröhlichkeit ihrer Nichte.
Später legte Thomas den Arm um Alice und Ben und schilderte ihnen aufgeregt seine Pläne. Er erklärte, er werde Dotty nach dem Urlaub mitbringen. Sicher würden sie sich bald alle sehr gut kennen lernen, und schließlich sei ja noch das restliche Leben Zeit dazu. Alice lauschte nickend den Worten ihres Vaters und lächelte steif. Wie ihr allmählich klar wurde, brauchte sie sich keine Hoffnungen darauf zu machen, dass sie je wieder eine kleine Familie sein würden. Beim Reden beobachtete Alice ihren Vater durch dichte dunkle Wimpern und wusste nicht, ob sie weiter gute Miene zum bösen Spiel machen oder ihre Trauer darüber, dass er sie belog, offen zeigen sollte. Um sich zu trösten, legte sie den Arm um Ben. Thomas war froh darüber, wie aufgeschlossen die Kinder, insbesondere Alice, einer zukünftigen Stiefmutter gegenüberstanden, und er sagte es Bea, als die beiden außer Hörweite waren. Und so ließ sich selbst die besorgte Tante Bea in dem Glauben wiegen, dass man diese Hürde schon überwinden könne.
Allerdings hatten alle die Rechnung ohne Alices aufgewühlte Gefühle gemacht. Die innere Ruhe, die sie empfand, seit sie ihrem Vater auf die Schliche gekommen war, verschwand über Nacht, und sie fühlte sich zwischen Einsamkeit, Verlassenheit und ihrer wachsenden Wut hin und her gerissen. Es war der Verrat am Andenken ihrer Mutter, nicht seine Lügen und Halbwahrheiten, der Alice am meisten verletzte, und sie fraß ihren Kummer schweigend in sich hinein. Sie konnte einfach nicht begreifen, warum er ihre wunderschöne Mutter durch eine andere Frau ersetzte, und es fiel ihr schwer, den anderen den restlichen Tag über Theater vorzuspielen.
Als Thomas am nächsten Tag lächelnd und unter Versprechungen, er werde bald zurück sein, abreiste, brach schließlich der Damm. Es war, als habe Alice die Kontrolle über sich verloren. Innerhalb einer halben Stunde zerbrach sie versehentlich die liebste Zuckerdose ihrer Tante, ließ Onkel Rays letzte Tabakdose in eine Wasserpfütze fallen und verschüttete eine Lieferung von Schrauben und Muttern, die er gerade sorgfältig sortiert hatte, über den Wohnzimmerboden. Zu guter Letzt trat sie auf den kleinen Pappkarton, in
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