Weites Land der Träume
Winzige Schauder liefen ihr den Rücken hinunter, als sie den letzten Teil des Satzes vor sich hin flüsterte: »… denn die Träume von heute sind die Wirklichkeit von morgen.« Plötzlich war ihr alles sonnenklar, und angesichts ihrer eigenen Kühnheit schnappte sie nach Luft. Die Hände, die immer noch Sherrys Mähne umklammerten, wurden feucht. Und als sie weitersprach, klang ihre Stimme kräftig.
»Eines Tages werde ich dafür sorgen, dass Dad stolz auf mich ist. Ich werde es schaffen, Mum. Dann wird er mich und Ben nicht mehr verstecken und uns auch nicht mehr belügen oder allein lassen müssen. Ich werde mir selbst ein Schloss bauen und Schafe züchten, die in ganz Australien berühmt sein werden. Dann wird Dad keine andere Wahl mehr haben, als stolz auf mich zu sein.« Es war ein wahnwitziger und verrückter Traum in einer von Männern beherrschten Welt wie der australischen Schafzuchtbranche, wo die traditionellen Rollenbilder unverrückbar festgeschrieben waren und wo jeder Versuch, diese Grenzen zu überschreiten, zu Empörung, Missbilligung und Sabotage von beiden Geschlechtern führte. Doch als Alice über das weite Land blickte, fühlte sie sich, als sei ihr Geist endlich befreit worden.
Hinter dem Pferd und seiner Reiterin verfärbte sich der Himmel leuchtend orange und rosa. Die strahlenden Farben breiteten sich über das Himmelszelt aus und tauchten die Wolken in ein schimmerndes Licht. Als Alice in das Farbenmeer sah, flog aus einem nahen Eukalyptushain eine einsame dunkle Gestalt auf und verharrte über ihrem Kopf in der Luft. Als Alice sich auf Sherrys Rücken in gemächlichem Tempo auf den Heimweg durch die dunkler werdende Landschaft machte, überlegte sie immer noch, ob sich die Wolken langsam bewegt hatten oder ob der Vogel wirklich rückwärts geflogen war.
Kapitel acht
Alice, die gerade von ihrer morgendlichen Milchrunde zurückkam, galoppierte über die Felder und genoss die frische kühle Luft auf ihren geröteten Wangen und das angenehme Gefühl von Sherrys kräftigem Körper. Sie hatte alle Kunden auf Tante Beas Liste besucht und viele Nachbestellungen aufgenommen, was eine enorme Aufstockung der Haushaltskasse bedeutete.
Auf dem Boden lag noch Tau, und Dampfwolken stiegen von Sherrys verschwitzten Flanken und aus ihren Nüstern auf, als sie zwischen dem Flussbett und der Weide vor dem Haus dahingaloppierten. Mit einem leisen Seufzer ließ Alice das Pferd langsamer gehen, damit es abkühlen konnte. Die frühmorgendlichen Ausritte mit Sherry waren das Schönste für Alice.
Sie stieg ab, schlang wie immer die Arme um das Pferd und drückte es rasch an sich. »Du bist meine beste Freundin«, murmelte sie, die Lippen an Sherrys kräftigen Hals gelegt. Schon lange hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass sie und Katie sich je miteinander anfreunden würden. Katie hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie sie nur duldete. Doch Alice war fest entschlossen, sich nicht von Gedanken an Katie den Tag verderben zu lassen. Sie nahm Sherry den Sattel ab. »Nach der Schule komme ich wieder«, sagte sie und warf Sherry die Abschwitzdecke über. Nachdem sie die Decke befestigt hatte, griff sie nach dem Sattel und eilte durch das Tor. Sie schloss es hinter sich, vergewisserte sich, dass die Liste für Bea in ihrer Tasche steckte und rannte zum Haus. Da sie später dran war als gewöhnlich, hörte sie schon, wie Bea nach ihr rief.
Vor dem Haus blieb Alice überrascht stehen, denn vor Onkel Rays Laden parkten zwei Autos, von denen sie eines sofort als das des Ortspolizisten erkannte. Das andere hatte sie noch nie gesehen. Kurz fragte sie sich, was die Besucher wohl um diese frühe Stunde wollten, aber sie brannte darauf, Tante Bea von der Liste zu erzählen. Deshalb räumte sie den Sattel rasch an seinen Platz und stürmte in die Küche.
»Tante Bea, rate mal, was …«, keuchte sie und verstummte im nächsten Moment, da plötzlich Stille im Raum entstand.
Der Polizist, der gerade mit Onkel Ray und einem gedrungenen Fremden gesprochen hatte, blickte auf. Der Mann war etwa zehn Jahre jünger als ihr Onkel, hatte eine Hakennase und bedachte Ray mit finsteren Blicken. Ihr Onkel war rot im Gesicht und wippte auf den Absätzen hin und her, ohne Alice anzusehen, während Tante Bea heftig ein Stück Toast bearbeitete.
»Guten Morgen, Alice«, begrüßte der Polizist sie freundlich und brach damit das Schweigen.
»Beeil dich, du musst in die Schule, Alice«, sagte Tante Bea streng, blickte
Weitere Kostenlose Bücher