Weites Land der Träume
dem Katie ihre Bänder und winzigen Figürchen aufbewahrte, und es kam zum Streit. Als Onkel Ray sie anschrie, brüllte sie zurück, anstatt Reue zu zeigen, denn inzwischen kümmerte sie nichts und niemand mehr. Alice stürmte hinaus und auf die Weide, wo das einzige Lebewesen, dem sie noch vertraute, stand und zufrieden graste.
Sherry hob den Kopf und trottete mit nach vorne gereckten Ohren freudig auf das rennende Mädchen zu.
»Ach, Sherry, ich hasse sie alle!«, rief Alice aus. Sie sprang auf den kräftigen glatten Rücken des Pferdes, bohrte ihm die Fersen in die Flanken und trieb es zum Galopp an. Die Hände tief in Sherrys dichter Mähne vergraben und die Knie an ihre Seiten gepresst, preschte sie über die dürren, braunen Weiden, während ihr die Tränen über die Wangen strömten. Zum Teufel mit Onkel Ray, zum Teufel mit ihrem Vater, zum Teufel mit Katie, zum Teufel mit allen. Wie konnte ihr Vater ihr zuerst Sherry schenken und sich dann Ben und ihr gegenüber so grausam verhalten? Vielleicht würde man ihr Sherry ja auch wieder wegnehmen. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen, ganz gleich, wie weh es auch tat. Sie und Ben waren ihrem Vater lästig, und er würde nie zurückkommen. Alice klammerte sich fester an Sherry, und ihre traurigen Gedanken überschlugen sich.
Als sie über das Flussbett und in das offene Grasland jagten, verwandelten sich Wut und Bestürzung in unbändige Kraft. Sie würde allein mit der Welt zurechtkommen und ihr Schicksal selbst bestimmen. Niemand würde sie je wieder verraten. Sie würde sich den Weg ebnen und die Magie des Lebens erkennen. Und wenn die Zeit kam, jemanden zu lieben, würde sie das so tief und ausschließlich tun, dass für Betrug, Lügen und falsche Versprechungen kein Raum mehr war und es nur noch absolutes Vertrauen und Einheit gab. Und vor allem würde sie nie wieder jemandem erlauben, sie einfach so im Stich zu lassen.
Alice lachte befreit auf, als der Wind ihr ins Gesicht wehte und mit ihrem Haar spielte. Noch nie im Leben hatte sie sich so wohl gefühlt. Allmählich lockerte sie den Griff um Sherrys Mähne, sodass das Pferd langsamer wurde und in Trab und schließlich in Schritttempo fiel. Sie empfand tiefen Frieden, als sie gemächlich auf den Fluss zuritt.
»Brrr, Sherry.« Das Pferd reagierte auf den leisen Befehl. Als Alice sanft an ihrer Mähne zog, hob die Stute den Kopf und wieherte. Pferd und Reiterin verharrten auf der von schwarzer Erde bedeckten Ebene, sodass sich ihre Umrisse vom spätnachmittäglichen Himmel abhoben.
»Es ist so schön hier«, flüsterte Alice ehrfürchtig. »Ich werde es schaffen, Sherry«, fuhr sie fort. »Das kann ich. Ich weiß es genau.«
Doch als sie die gewaltigen Weiten erblickte, die sich so sehr von ihrer früheren Heimat unterschieden, drohte die Zuversicht sie wieder zu verlassen. Doch schon im nächsten Moment war ihr, als trüge der Wind die Worte ihrer Mutter heran: »Fasse Mut, Alice. Vergiss nicht, dass Taten und nicht Worte dich dorthin bringen werden, wo du gern sein möchtest.«
Alice seufzte schwer. Der Satz war noch weitergegangen, doch sie konnte sich nicht mehr richtig daran erinnern. »Es ist so schwierig, Mum. Ich vermisse dich so sehr«, sagte sie leise.
Allerdings war alles leichter gesagt als getan. Schließlich hatte sie ihrem Dad nie im Wege stehen wollen. So sehr hatte sie sich bemüht, sich Tante Bea zum Vorbild zu nehmen, die stets vergnügt war und ihre Mitmenschen glücklich machen wollte. Sie hatte versucht, sich mit ihren Cousins zu vertragen. Und sie hatte geglaubt, dass es wenigstens zum Teil gelungen war, Onkel Ray zufrieden zu stellen. Und dann erschien plötzlich Dotty auf der Bildfläche und verdarb alles. Es musste noch mehr im Leben geben als immer nur den Schein zu wahren und dennoch zurückgewiesen und enttäuscht zu werden. Das Glücksgefühl, das sie soeben empfunden hatte, musste doch irgendwo herkommen. Alice beobachtete ein paar friedlich weidende Schafe, die sie an die Tiere erinnerten, bei deren Behandlung sie Tante Bea geholfen hatte. Sie schnupperte die saubere Landluft, und ihre Stimmung hellte sich auf. Und da kam ihr der vergessene Spruch in den Sinn und mit ihm eine unbeschreiblich kühne Idee. Während die Worte ihrer Mutter ihr im Kopf herumgingen, stellte sie sich ihr lächelndes Gesicht vor, und fast war ihr, als könnte sie ihr Parfüm riechen. »Sei mutig, mein Liebling, und träume. Wenn du deinen Traum kennst, greif mit beiden Händen danach.«
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