Weites Land der Träume
noch. Am Wasserhahn hielt Alice inne. Obwohl sie eigentlich nicht lauschen wollte, konnte sie ihre Neugier nicht zügeln.
»Pass auf, ich habe es zwar vorhin nicht erwähnt, aber mit meiner Freundin gibt es ein paar Probleme. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, wenn ich sie noch nicht hierher einlade.« Thomas sprach rasch. »Dotty ist noch sehr jung, und ich kann ihr schließlich nicht sofort die Kinder aufhalsen … Offen gestanden habe ich ihr noch gar nicht von ihnen erzählt.« Plötzlich wurde Alice trotz der Hitze eiskalt.
»Was soll das heißen?«, erkundigte sich Tante Bea mit scharfer Stimme.
»Jetzt reg dich doch nicht gleich auf, Schwesterherz. Ich habe mir alles genau überlegt. Am besten ist es, wenn ich sie weiter bei dir lasse. Hier sind die Kinder glücklich, sie lieben dich, und du kannst dich um sie kümmern. Ich weiß, dass du Dotty sehr gern haben wirst, Schwesterchen.« Der nächste Satz ließ Alice erstarren.
»Also wirst du einfach deine eigenen Kinder im Stich lassen?«, rief Bea aus. »Hast du überhaupt vor, uns diese Frau jemals vorzustellen?«
»Ich lasse sie doch nicht im Stich. Ich brauche nur ein wenig Zeit. Schau, gib mir sechs Monate. Ich schwöre, dann werde ich es ihr sagen. Wir brauchen eben Zeit, um einander besser kennen zu lernen, ohne uns Gedanken über andere Menschen machen zu müssen. Ich verspreche dir, eine Lösung für die Kinder zu finden, sobald sie sich an den Gedanken gewöhnt hat. Ganz bestimmt wird sie eine wunderbare Mutter abgeben, doch wenn ich es ihr jetzt gleich beichte, werde ich sie sicher verlieren.« Seine Stimme erstarb. »Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Alice musste die Ohren spitzen, um den Rest des Gesprächs zu verstehen. »Und ich brauche ebenfalls Zeit, Schwesterchen. Jedes Mal, wenn ich Alice anschaue, sehe ich Mary Ellen vor mir.« Thomas putzte sich die Nase. Als er fortfuhr, klang seine Stimme kräftiger. »Ich habe ein Recht auf eine zweite Chance und kann nicht den Rest meines Leben trauern. Aber wie soll ich das jemals schaffen, wenn ich keinen Abstand gewinnen darf?«
»Sprich leiser, sonst weckst du noch die Kinder«, flüsterte Bea ein wenig sanfter.
»Sie ist tot, Bea. Sie ist seit fast einem Jahr tot. Ich muss mein Leben weiterführen. Sechs Monate sind doch keine Ewigkeit. Den Kindern wird es bei dir gut gehen, und Dotty hat so Gelegenheit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie plötzlich eine Familie haben wird. Ich werde eine Lösung finden. Vielleicht ist ja bis dahin auch neuer Nachwuchs unterwegs.« Er klang fast keck. Alice fühlte, wie sich ein Stein auf ihre Brust legte.
»Ich weiß, dass du einsam bist, Tommy. Aber wenn du, was diese Frau betrifft, so viele Zweifel hast, rate ich dir, dich von ihr zu trennen«, warnte Tante Bea, die nicht wusste, ob sie sich ärgern oder Mitleid mit ihrem Bruder haben sollte. »Und was ist mit den Kindern? Hast du vor, es ihnen zu sagen? Hast du überhaupt einen Gedanken an sie verschwendet?« Der Ärger gewann die Oberhand. »Komm schon, Tommy, werd endlich erwachsen!«
Wie konnte er seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas antun? Bea hatte seine Selbstsucht nie verstanden, stets die Augen davor verschlossen und ihren kleinen Bruder immer in Schutz genommen. Doch welche Folgen würde sein Verhalten für Alice und Ben haben? Ihre früheren Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten.
»Jetzt werd nicht gleich sauer. Immerhin ist es mein Leben.« Das Scharren eines Stuhls hallte laut durch die Nachtluft. »Schon gut. Ich werde Dotty von ihnen erzählen und sie hierher mitbringen. Aber ich verlange, dass sie sechs Monate Zeit bekommt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Was hältst du davon? Dann wissen alle Bescheid, und niemand muss darunter leiden.« Seine alte Großspurigkeit kehrte zurück. Bea ahnte, dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Doch wenn die Kinder bei ihr blieben, wusste sie wenigstens, dass sie gut versorgt waren und geliebt wurden.
»Und du wirst es Alice und Ben morgen selbst sagen?«, beharrte sie, da ihr seine ausweichende Haltung Sorgen machte.
»Ich werde morgen mit den beiden reden. Schau, es ist ja nur so eine Art Urlaub.«
»Und was ist, wenn Dotty gar keine Lust auf Stiefkinder hat?«
»Jetzt kau das Thema nicht durch bis zum Erbrechen, Schwesterchen. Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist. Außerdem fällt dir dann sicher etwas ein. Das ist doch
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