Weizenwampe
Patienten mehr Bewegung, während seine Kollegen Omen aus der Natur oder die Position der Sterne bemühten, um ihre Diagnosen zu stellen. 1870 beobachtete der französische Arzt Apollinaire Bouchardat, dass während der viermonatigen Belagerung von Paris durch die Preußen der Zucker aus dem Urin seiner Patienten verschwand, als die Nahrung knapp wurde, insbesondere das Brot. Nach Ende der Belagerung riet er seinen diabetischen Patienten deshalb, weniger Brot und andere Stärkeprodukte zu sich zu nehmen und regelmäßig zu fasten, während andere Ärzte mehr Stärke empfahlen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat der herausragende Arzt und Mitbegründer des Johns Hopkins Hospitals, Dr. William Osler, in der damals führenden amerikanischen Ärztezeitschrift Principles and Practice of Medicine die Ansicht, dass Diabetiker maximal zwei Prozent Kohlenhydrate essen sollten. Und Dr. Frederick Banting, der in seiner Publikation von 1922 erstmals beschrieb, wie er diabeteskranken Kindern Pankreasextrakt injizierte, erwähnt, dass die damalige Krankenhausdiät zur Zuckerkontrolle eine strenge Kohlenhydratbeschränkung auf zehn Gramm pro Tag vorsah. 24
Wenn man zur Diagnose auf die Beobachtung angewiesen ist, ob sich Fliegen um den Urin sammeln, kann man schlecht ein Heilmittel ersinnen. Hätten die alten Ärzte bereits über Blutzuckertests und HbA1c-Messungen verfügt, so hätten sie auch Diabetes besser behandeln können. Die aktuelle Wenig-Fett-mehr-gesundes-Vollkorn-Ära hat uns vergessen lassen, was kluge Beobachter wie Osler oder Banting einst herausfanden. Dass sich Diabetes am besten durch verminderten Kohlenhydratverzehr heilen lässt, ist daher eine Lektion, die neu auf den Stundenplan gehört.
Immerhin sehe ich bereits Licht am Ende des Tunnels. Die Vorstellung, Diabetes als eine Folgeerkrankung im Zusammenhang mit einer Kohlenhydratintoleranz zu betrachten, spricht sich in der Medizin allmählich herum. Zu den aktiven Befürwortern dieses Konzepts zählen namhafte Ärzte und Wissenschaftler wie Dr. Eric Westman von der Duke University, Dr. Mary Vernon, ehemalige ärztliche Leiterin des Gewichtskontrollprogramms der Universität Kansas und ehemalige Präsidentin der amerikanischen Gesellschaft der Ärzte gegen Übergewicht (ASBP), sowie der umtriebige Forscher Dr. Jeff Volek von der Universität Connecticut. Westman und Vernon melden beispielsweise, dass sie die Insulindosis bei Patienten, die sich auf eine kohlenhydratarme Diät umstellen, normalerweise schon am ersten Tag um 50 Prozent senken müssen, um eine gefährliche Unterzuckerung zu verhindern. 25 Wiederholt konnten Dr. Volek und sein Team im Tierversuch und in Studien am Menschen nachweisen, dass eine radikale Kohlenhydratreduktion Insulinresistenz, postprandiale Stoffwechselschwankungen und Bauchfett zurückgehen lässt. 26, 27
In den letzten zehn Jahren kamen zahlreiche Studien zu dem Ergebnis, dass eine Kohlenhydratbeschränkung Diabetiker abnehmen lässt und ihren Blutzucker verbessert. 28, 29, 30 In einer dieser Studien, in der die Teilnehmer nur maximal 30 Gramm Kohlenhydrate erhielten, nahmen sie im Laufe eines Jahres im Durchschnitt fünf Kilo ab, und die HbA1c-Werte (die den durchschnittlichen Blutzucker während der letzten 60 bis 90 Tage anzeigen) sanken von 7,4 auf 6,6 Prozent. 31 Eine Studie der Temple University an adipösen Diabetikern ergab, dass die Senkung der Kohlenhydrate auf 21 Gramm pro Tag innerhalb von zwei Wochen in der Regel einen Gewichtsverlust von 1,5 Kilo ergab. Gleichzeitig sank der HbA1c-Wert von 7,3 auf 6,8 Prozent, und die Insulinreaktion verbesserte sich um 75 Prozent. 32
Dr. Westman konnte die praktischen Erfahrungen vieler Mediziner erfolgreich belegen: Ein Verzicht auf Kohlenhydrate, einschließlich der Hauptkohlenhydratquelle der »gesunden« Ernährung, nämlich Weizen, schützt nicht nur besser vor Blutzuckerschwankungen, sondern kann dazu führen, dass Typ-2-Diabetiker auf Insulin und Medikamente gegen Diabetes ganz verzichten können. In anderem Zusammenhang spricht man bei solchen Ergebnissen von Heilung.
In einer aktuellen Studie von Dr. Westman befolgten 84 adipöse Diabetiker eine streng kohlenhydratreduzierte Diät ohne Weizen, Maisstärke, Zucker, Kartoffeln, Reis und Obst mit maximal 20 Gramm Kohlenhydraten pro Tag (ähnlich wie bei den alten Ansätzen von Dr. Osler und Dr. Banting). Nach sechs Monaten war der Taillenumfang um rund 13 Zentimeter geschrumpft, die Triglyzeride lagen 70 mg/dl
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