Weizenwampe
und Sie in einem unbekannten Raum voller Fußangeln, Fallstricke und willkürlich platzierter Objekte aussetzen. Wahrscheinlich würden Sie schon nach wenigen Schritten kopfüber im Schuhregal landen. So ergeht es Menschen mit zerebellärer Ataxie, doch diese Leute stolpern auch mit offenen Augen.
Die Betroffenen sind häufig mit Stock oder Rollator unterwegs, denn die kleinste Unebenheit könnte zu einem Sturz und damit womöglich einem Oberschenkelhalsbruch führen. Ihre Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden, ist durch Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen stark eingeschränkt. Diese Funktionen sind im Kleinhirn verankert, dem Zerebellum.
Wer unter zerebellärer Ataxie leidet, sucht in der Regel einen Neurologen auf. Häufig lautet die Diagnose idiopathisch , das heißt, die eigentliche Ursache ist unbekannt. Eine Behandlung ist in solchen Fällen kaum möglich, sondern der Neurologe verordnet eher eine Gehhilfe, rät zur Entfernung von Stolperfallen in der Wohnung und unter Umständen zu Inkontinenzbinden, da die Symptome häufig irgendwann mit Inkontinenz einhergehen. Zerebelläre Ataxie ist eine fortschreitende Erkrankung, die von Jahr zu Jahr schlimmer wird, bis die Patienten sich irgendwann nicht einmal mehr selbst kämmen, die Zähne putzen oder ohne Beistand auf die Toilette gehen können. Sogar die einfachsten Verrichtungen der Körperpflege muss dann eine zweite Person vornehmen. An diesem Punkt ist auch der Tod nicht mehr fern, weil eine so extreme Hinfälligkeit Komplikationen wie Lungenentzündungen oder entzündete Druckstellen begünstigt.
Je nach Erhebung ist bei zehn bis 22,5 Prozent der Zöliakiepatienten auch das Nervensystem beeinträchtigt. 1, 2 Umgekehrt finden sich bei 20 Prozent der Ataxiepatienten abnorme Glutenmarker im Blut. In der Gruppe der Patienten mit idiopathischer Ataxie, also keiner identifizierbaren Ursache, wurden sogar bei 50 Prozent der Betroffenen abnorme Glutenmarker ermittelt. 3
Das Problem daran: Bei der Mehrheit der Menschen, bei denen die Ataxie von Weizengluten ausgelöst wird, liegen keinerlei Darmsymptome vor, die auf eine Überempfindlichkeit gegen Gluten hindeuten.
Die zerstörerische Immunreaktion, die bei Zöliakie Durchfall und Bauchkrämpfe hervorruft, kann auch das Gehirngewebe angreifen. Ein möglicher Zusammenhang zwischen Glutenunverträglichkeit und neurologischen Folgeerkrankungen im Gehirn wurde zwar schon 1966 diskutiert, doch damals schob man diese auf Nährstoffmängel infolge der gestörten Darmtätigkeit. 4 Inzwischen jedoch hat sich gezeigt, dass Gehirn und Nervensystem direkt vom Immunsystem attackiert werden. Die nach Glutenkontakt gebildeten Antigliadinantikörper können sich an die Purkinjezellen binden, die nur im Kleinhirn vorkommen. 5 Derartiges Gehirngewebe kann sich jedoch nicht regenerieren, so dass einmal geschädigte Purkinjezellen für immer verloren sind.
Neben dem Verlust von Gleichgewicht und Koordination kann sich eine zerebelläre Ataxie auch durch andere Symptome bemerkbar machen. In der Geheimsprache der Neurologen bezeichnet man diese als Nystagmus (seitliches, unwillkürliches Zucken der Augen), Myoclonus (unwillkürliche Muskelzuckungen) und Chorea (chaotisches, unwillkürliches und ruckartiges Gliederzucken). Eine Studie an 104 Teilnehmern mit zerebellärer Ataxie ergab zudem Gedächtnisstörungen und Wortfindungsstörungen, was darauf hindeutet, dass die weizenbedingten Zerstörungen auch das Großhirn und damit den Sitz unserer Erinnerungen und unseres Verstandes betreffen. 6
Die Symptome einer weizenbedingten zerebellären Ataxie beginnen in der Regel im Alter von 48 bis 53 Jahren. Bei einer MRT-Darstellung des Gehirns zeigt sich bei 60 Prozent der Betroffenen eine Atrophie des Kleinhirns, welche die irreversible Schädigung der Purkinjezellen belegt. 7
Wegen der begrenzten Regenerationsfähigkeit des Gehirns bessern sich die neurologischen Funktionen auch nach dem Verzicht auf Weizengluten kaum. Bei den meisten Betroffenen schreitet die Erkrankung nur nicht mehr weiter fort, sobald der Glutennachschub ausbleibt. 8
Die erste Hürde bei der Diagnose einer Ataxie aufgrund von Weizenexposition ist die Suche nach einem Arzt, der auch nur bereit ist, diese Diagnose in Betracht zu ziehen. Allein das gestaltet sich schon sehr schwierig, da die meisten Mediziner nach wie vor der Ansicht sind, dass Weizen gesund ist. Wenn sich doch jemand darauf einlässt, ist die Diagnose selbst schwieriger als die einer
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