Weizenwampe
Landwirtschaft eher als Kompromiss anzusehen, bei dem man zugunsten von Bequemlichkeit, einer arbeitsteiligen Gesellschaft und reichlich Nahrung gesundheitliche Einschränkungen in Kauf nahm.
Inzwischen haben wir diese Lebensweise so auf die Spitze getrieben, dass wir uns an populären Leitsätzen wie »Esst mehr gesundes Vollkorn« orientieren und auf wenige Grundnahrungsmittel beschränken, anstatt auszukosten, was die Natur bieten. Bequemlichkeit und ein massenhaftes preisgünstiges Angebot haben ein Ausmaß erreicht, das noch vor 100 Jahren undenkbar gewesen wäre. Aus einem Wildgras mit 14 Chromosomen wurde eine schwere, ultra-ertragreiche, nitratgedüngte Ähre mit dem dreifachen Chromosomensatz, die uns ermöglicht, die Muffins und Brezeln im Megapack zu kaufen.
Das extrem große Angebot geht daher auch mit extremen gesundheitlichen Opfern einher – Übergewicht, Arthritis, neurologische Einschränkungen und sogar Todesfälle aufgrund von zunehmend häufigeren Erkrankungen wie Zöliakie. In unserem Größenwahn haben wir uns auf einen Pakt mit der Natur eingelassen, in dem wir unsere Gesundheit dem Überangebot opfern.
Die These, dass Weizen manch einen nicht nur krank macht, sondern letztlich tötet – den einen schneller, den anderen langsamer –, wirft allerdings auch beunruhigende Fragen auf: Was sagen wir den Millionen Menschen in den Entwicklungsländern, die ohne den Hochleistungsweizen zwar weniger chronische Krankheiten entwickeln, aber noch schneller verhungern würden? Heiligt hier tatsächlich der Zweck einer sinkenden Mortalitätsrate die keineswegs perfekten Mittel?
Können wir ausgerechnet in Zeiten von Börsen- und Wirtschaftskrisen den Umbruch verkraften, der erforderlich wäre, wenn die Nachfrage nach Weizen sinkt und verstärkt andere Produkte und Nahrungsmittel gefragt sind? Ist es logistisch überhaupt möglich, all die Menschen mit preiswerter Nahrung zu versorgen, die sich derzeit von Pizza und Brot aus ertragreichem Weizen ernähren?
Sollten Einkorn oder Emmer, die ursprünglichen Vorläufer des modernen, tausendfach überzüchteten Weizens, das heutige Getreide ersetzen – auf Kosten eines geringeren Ertrags und somit zu steigenden Preisen?
Ich behaupte nicht, auf solche Fragen eine Antwort zu haben. Es kann noch Jahrzehnte dauern, bis wir sie angemessen beantworten können. In meinen Augen könnte die Bewahrung alter Getreidesorten (wie durch Eli Rogosa in Massachussetts) einen kleinen Teil der Lösung darstellen und mit der Zeit einen ebenso hohen Stellenwert bekommen wie Eier von frei laufenden Hühnern. Für manche Menschen ist dieser urtümliche Weizen möglicherweise eine vernünftige Lösung, die aus gesundheitlicher Sicht zwar nicht absolut unproblematisch, aber immerhin deutlich sicherer ist. Und da letztlich doch die Nachfrage das Angebot regelt, wird die Landwirtschaft sich allmählich darauf einstellen, wenn die Kunden vermehrt andere Getreidesorten wünschen.
Aber was ist mit der Ernährung der darbenden Bevölkerung der Dritten Welt? Ich kann nur hoffen, dass ein verbessertes Angebot in den kommenden Jahren zu einem breiteren Nahrungsspektrum führt, mit Hilfe dessen sich die Menschen von der gegenwärtig vorherrschenden »Besser als Nichts«-Mentalität lösen können.
Bis dahin können die Verbraucher mit ihrem Geldbeutel abstimmen.
Die Botschaft »Esst mehr gesundes Vollkorn« gehört genauso auf den Friedhof der ausrangierten Gesundheitslehren wie der Tausch von gesättigten Fette gegen gehärtete oder mehrfach ungesättigte Fette, Butter gegen Margarine oder Saccharose gegen fruchtzuckerreichen Maissirup. All diese gut gemeinten Ernährungslehren haben die Öffentlichkeit lange genug verwirrt, irregeleitet und dicker gemacht.
Weizen ist ebenso wenig einfach nur ein weiterer Kohlenhydratträger wie eine Kernspaltung einfach nur als chemische Reaktion anzusehen ist.
Der moderne Mensch hat sich zu der Hybris verstiegen, den genetischen Code bestimmter Spezies seinen Bedürfnissen entsprechend zu verändern. In 100 Jahren kann man Gene vielleicht so geschickt manipulieren wie ein ungeschütztes Bankkonto. Aber derzeit gehen genetische Eingriffe und die Hybridisierung von Pflanzen, die wir als Grundnahrungsmittel ansehen, aller Wissenschaft zum Trotz mit unbeabsichtigten Wirkungen auf die Pflanze selbst und die Wesen, die sie verzehren, einher.
Die Pflanzen und Tiere auf unserer Erde in ihrer gegenwärtigen Form sind das Ergebnis einer evolutionären
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