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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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er sonst hätte tun sollen.
    Er nahm
Charles Trenet’s Greatest Hits
aus dem Kassettenrecorder des Wagens, zog Dalziels Kassette aus der Tasche, schob sie ein, lehnte sich zurück und lauschte.

10
    Kay (1)
    M
ein Geburtsname lautet Katherine Dickenson, ich wurde aber immer Kay gerufen.
    Ich glaube, ich war das einzige Kind. Als ich noch sehr klein war, gab es noch ein anderes Baby, aber das verschwand dann wieder, und später wurde nie mehr darüber gesprochen.
    Vielleicht war es nur das Kind einer Nachbarin, auf das meine Mutter eine Weile lang aufgepasst hatte.
    Ich wagte nicht danach zu fragen, aus Angst, ich könnte auf die gleiche Art und Weise verschwinden.
    Laut meiner Geburtsurkunde wurde ich in Milwaukee geboren, aber wir mussten von dort schon weggezogen sein, bevor ich mich überhaupt an Orte erinnern konnte. Überhaupt schienen wir viel herumgezogen zu sein. Immer dorthin, wo Arbeit war, sagte mir meine Mutter, als ich alt genug war, um danach zu fragen. Aber ich hatte dabei immer das Gefühl, dass wir den einen Ort bereits verließen, bevor wir wussten, wo wir eigentlich hinwollten.
    Mein Vater war ein impulsiver Mensch, nicht aufgebracht, jedenfalls nicht so, dass man es bemerkt hätte, und auch nicht gewalttätig, zumindest nicht mir gegenüber. Aber impulsiv. Und durch nichts umzustimmen. Keine Diskussionen. Er traf eine Entscheidung, und das war’s dann. So war’s wohl oft in seiner Arbeit – er machte seinen Job, er machte ihn gut, bis eines Tages jemand kam und ihm sagte, er solle was machen, was ihn nicht interessierte. Und dann sagte er: nein. Einfach so. Und wenn sein Boss sagte, mach es oder geh, dann ging er. Dann kam er nach Hause und sagte: »Packt eure Sachen, wir ziehen weiter.«
    Ich entwickelte einen regelrechten Hass dagegen, wenn Pa früher nach Hause kam. Ma und ich hörten die Tür, und sofort erstarrten wir, egal womit wir gerade beschäftigt waren.
    Am längsten blieben wir in Springfield, Massachusetts. Wir wohnten in einem Trailer-Park. »Nur zeitweilig«, sagte Pa, »bis wir was Besseres finden.« Das war Pa. Der einzige Ort, an dem wir nur zeitweilig bleiben wollten, war der, an dem wir am längsten fest gewohnt hatten.
    Ich war vierzehn, als wir nach Springfield zogen. Ich war gut in der Schule, aber ich dachte mir immer, ich würde sobald wie möglich von der Schule abgehen und mir Arbeit suchen. Doch dann sagte mir Pa eines Tages, dass ich bleiben und aufs College gehen würde. Keine Erklärung, keine Diskussion. Wie ich schon sagte, impulsiv.
    So starb er auch. Und meine Mutter. Ich war siebzehn, ging auf die achtzehn zu, alles war geregelt, damit ich im kommenden Herbst aufs College gehen konnte, unten in Hartford. Das ist in Connecticut, dem nächsten Staat im Süden. Pas Entscheidung. Er sagte, in Hartford gebe es eine Menge Arbeit, und er habe sowieso geplant, mit uns dorthin zu ziehen. Geplant! Nachdem er sein ganzes Leben lang von einen Tag auf den anderen gelebt hatte, meinte er nun, es mal mit Voraussicht zu versuchen. Vielleicht war es genau das, was ihn abgelenkt hatte, so dass er nicht auf das achtete, was unmittelbar vor ihm war, nämlich ein Lastwagen, der auf die Interstate einbog.
    Sie waren sofort tot. Als die Nachricht kam, muss ich in eine Art Trance gefallen sein. Ich kann mich kaum an irgendwas erinnern, was bis zur Beerdigung geschah, und plötzlich war ich von Fremden umgeben, die sich alle Sorgen um meine Zukunft machten. Und ich höre mich zu ihnen sagen, es sei schon okay, ich hätte sowieso vorgehabt, bei meiner Tante in Hartford zu wohnen, wenn ich aufs College ging, nun würde ich eben auf Dauer bei ihr einziehen. Jemand fragte, warum sie nicht auf der Beerdigung sei, und ich sagte, weil sie sich auf Urlaub in Europa befinde und zu spät benachrichtigt wurde, aber ich habe mit ihr telefoniert, und sie würde mich in einigen Tagen erwarten.
    Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hatte. Vielleicht war es Pa in mir, dem es völlig gleichgültig war, was die anderen ihm sagten.
    Sie kauften es mir alle ab, jeder glaubte, die anderen wüssten besser Bescheid, und alle waren sie wahrscheinlich froh, ein Problem loszusein, das eigentlich nicht ihres war.
    Es gab noch etwas Geld, mehr, als ich erwartet hatte, genug, damit ich mich in Hartford einrichten konnte, aber viel zu wenig, um durchs College zu kommen. Ich hätte mir sowieso einen Job gesucht, jetzt aber blieb mir gar nichts anderes übrig.
    So kam ich zur Ashur-Proffitt Corporation.

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