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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Haus –
    Den Tag – erschöpfte ich –
    Wie könnte er – mich?
    Als ich den ersten Vers las, wurde mein Mund von einer Bitterkeit erfüllt, als hätte ich auf eine Selbstmordampulle gebissen. Ich meinte bereits die paralysierende Benommenheit zu spüren.
    »Miss Dickenson«, erklang eine Stimme hinter mir.
    Es war der Bibliothekar, sein Gesicht war eine leere Maske, die mehr ausdrückte als nur Besorgnis. Er sagte: »Die Kinderkrippe hat gerade angerufen. Könnten Sie bitte runterkommen?«
    Meine Füße schlugen den Rhythmus der zweiten Strophe, als ich durch die Gänge lief.
    Sonnenschein ein süßer Ort –
    Wo ich gern lag –
    Doch Morgen – wies mich ab –
    Drum – Gute Nacht – Tag!
    In der Kinderkrippe herrschte heillose Aufregung und Verwirrung um Alba. Sie hatte eine Art Anfall erlitten und atmete nur noch flach, ihr Gesicht war gerötet, sie hatte die Augen weit aufgerissen, blickte aber ins Leere. Ein Krankenwagen war unterwegs.
    Als er uns ins Krankenhaus fuhr, dröhnten mir die letzten beiden Strophen des Gedichts in den Ohren. Sie klangen, als wollte jemand Abschied nehmen, und zugleich hatten sie etwas Bedrohliches an sich:
    Ich darf schauen – nicht wahr –
    Wenn der Osten Rot?
    Die Hügel – haben dann – eine Art –
    Die führt das Herz – weit fort –
     
    Du – strahlst nicht so – Nacht
    Ich wählte – den Tag –
    Doch – Nimm ein kleines Mädchen –
    Das er nicht mag!
    Und das war es dann. In den nächsten Stunden wimmelte es von Schwestern und Ärzten, ich könnte jeden Satz zitieren, jede Silbe, die sie mit mir sprachen. Aber von Anfang an, trotz meiner verzweifelten Versuche, ihre Worte zu enträtseln, konnte ich nichts darin finden, was mir mehr Hoffnung in Aussicht stellen konnte als das, was mir Emilys Gedicht bereits gegeben hatte.
    Guten Morgen – Mitternacht
    Es herrschte Mitternacht für Alba, Mitternacht für mich. Die Ärzte sprachen von Ursache. Akute virale Enzephalitis. Aber ich sah nur die Wirkung. Mein fröhliches, schönes, lachendes, liebevolles Baby war nur noch eine leere Hülle, die auf nichts mehr ansprach. Ich blickte in diese trüben Augen und sagte mir, irgendwo da drin sei meine Alba. Aber sie war bereits weit jenseits meiner schwachen Versuche, sie zu erreichen.
    Noch immer gehörte ihr all meine Liebe, aber es war nicht genug, und ich hatte das Gefühl, es sei meine Schuld.
    Schließlich sagten sie mir, dass keine Hoffnung mehr bestehe. Nur die Maschinen hielten sie noch am Leben. Sie brauchten meine Einwilligung, um sie abzuschalten.
    Es war, als sagten sie mir, du hast es bereits geschafft, dein Kind zu verlieren, jetzt wollen wir, dass du es umbringst.
    Das habe ich getan.
    Gute Nacht – Tag!

11
    Ein feministischer Haken
    D ie Kassette war noch nicht zu Ende – Pascoe hörte die Frau atmen, kurz und abgehackt zunächst, was sich zu einem längeren, weicheren Rhythmus modulierte, als würde sie innehalten, um wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen.
    Auch er brauchte eine Pause. Er schaltete den Kassettenrecorder aus und starrte mit leerem Blick aus dem Wagen.
    Sie hatte ein Kind verloren. Eine Tochter. Er kannte diese Situation, zumindest war er ihr sehr nahe gekommen. Und ihr sehr nahe zu kommen hieß, dass man alles durchmachte, dass man bereits, egal was andere einem über Hoffnung erzählten und an Stärke abverlangten, die Schwelle überschritten hatte und sich im trostlosen Land des Verlusts befand, der Trauer, des Todes.
    Er erinnerte sich an seine Gefühle, als er aus diesem Land wieder herausgezerrt wurde. An seine Freude, seine Dankbarkeit, sein Glücksgefühl, die so überwältigend waren, dass es schon wieder wehtat. Doch zuvor geschah etwas, was er in der Rückschau als Lazarus-Moment bezeichnete, ein Augenblick der Verwirrung, fast der Verbitterung, da er nun in einen Zustand zurückgekehrt war, in dem das Überschreiten dieser schrecklichen Schwelle erneut im Bereich des Möglichen lag.
    Diese Frau hatte die Schwelle überschritten. Und war nicht zurückgekehrt.
    Er schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, den Blick auf die Wirklichkeit zu richten, auf das noble Haus im spanischen Stil.
    Casa Alba.
    O Scheiße.
    Casa Alba.
Was, wenn seine dürftigen Spanischkenntnisse ihn nicht im Stich ließen, Haus der Morgendämmerung hieß.
    Alba Dickenson. Nach der Morgendämmerung benannt. Deren Tod ihre Mutter über den dazwischenliegenden Tag in die Mitternacht gestürzt hatte.
    Konnte es reiner Zufall

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