Welch langen Weg die Toten gehen
mich nach ihm. So erfuhr ich, dass er sich zu einer der Überseeniederlassungen von A-P hatte versetzen lassen.
Ich war am Boden zerstört. Und dann dachte ich mir, zum Teufel mit ihm, ich schaff es auch allein.
Vielleicht hätte ich es geschafft, aber es war dann gar nicht nötig. Denn nun kam Tony ins Spiel. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er sich lustig machte, dass er mir sagen würde, wie sehr es ihn freute zu sehen, wie ich nun endlich Gewicht ansetze. Aber als mein Bauch immer dicker wurde, schien er mich stattdessen nicht mehr nur als Aushilfsbedienung zu sehen, sondern als wirkliche Person. Vielleicht fühlte er sich verantwortlich, nachdem er herausfand, dass einer seiner Leute mich in diese Situation gebracht hatte. Ich habe später erfahren, dass er seine Hand mit im Spiel hatte, als Frank Hartford verließ, mit dem Ergebnis, dass Frank nicht nur von A-P entlassen wurde, sondern auch ernsthafte Probleme bekam, woanders einen Job zu bekommen.
Der Geburtstermin rückte also näher. Ich bekam sogar Mutterschaftsurlaub aufgrund von A-Ps Sozialplan, obwohl mir das als Aushilfskraft überhaupt nicht zugestanden hätte. Aber Tony segnete es ab. Die Geburt war hart. Ich hatte jede Komplikation, die es nur geben kann. Als es vorüber war, stand fest, dass ich keine Kinder mehr bekommen konnte, aber das störte mich nicht, nicht damals, als ich mein kleines Mädchen im Arm hielt.
Sie genügte mir. Sie war meine Welt, gab mir einen Sinn und eine Zukunft.
Wenn das für ein so kleines Mädchen nach einer ganzen Menge klingt, dann möchte ich noch anfügen, dass sie auf ganz konventionelle Weise wunderschön war – sie hatte große, blaue Augen, blondes Haar, schon bei der Geburt, das sich in wenigen Wochen zu dichten Locken auswuchs, und eine Haut so weiß wie eine Perle, auf die der rosarote Schimmer des neuen Tags lag.
Vielleicht nannte ich sie deshalb Alba. Die Morgendämmerung.
Die nächsten Monate waren die glücklichsten in meinem Leben. Finanziell war es knapp, aber es reichte. Mit meinem eigenen kleinen Guthaben plus dem Mutterschaftsgeld von A-P, das ich dank Tony erhielt, konnte ich mich um Alba kümmern und sogar noch meine Arbeiten fürs College schreiben. Schließlich musste ich mich wieder ganz auf meine Kurse konzentrieren und nebenbei noch Geld verdienen. Gott sei Dank gab es gute Krippeneinrichtungen am College und noch bessere bei A-P. Wo immer ich also war, ich war nie weit von Alba weg.
In der Kantine behandelte mich Tony wie eine Freundin. Mir fiel auf, dass alle anderen leitenden Angestellten mir gegenüber höflich und zuvorkommend waren. Keine dummen Witze, kein Geschäker. Ich wusste damals nicht, dass Franks Karriere den Bach runterging, aber ich nehme an, es hatte sich unter den anderen A-P-Angestellten rumgesprochen, dass ich irgendwie unter Tonys Schutz stand. Nicht dass er sich mir jemals genähert hätte. Es war, als hätte ich Pa um mich, der auf mich aufpasste. Pa ohne seine Impulsivität. Der Pa, zu dem er sich vielleicht noch entwickelt hätte.
Im College lief es ganz gut, sah man davon ab, dass ich nun noch weniger Schlaf hatte als vorher. Aber wie gesagt, ich brauchte nicht viel. Wenn ich an Frank dachte, konnte ich nicht sauer auf ihn sein. Hatte er mir nicht das Beste in meinem Leben gegeben, meine Tochter?
Und indirekt hatte er mir Emily Dickinson geschenkt.
Für meine Hauptfacharbeit hatte ich sie zum Thema gewählt. Eine wunderbare Dichterin, seltsam, merkwürdig vielleicht, aber sie sprach mich unmittelbar an. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich belausche durch sie meine eigenen Gedanken. Diese vielen zarten Gedichte. Wenn ich sie las, war es, als tauchte ich meine Finger in ein Schmuckkästchen. Ich wusste nie, welche Juwelen ich als Nächstes hervorholen würde, aber ich wusste, es würde was Wertvolles sein. Manchmal mehr als das. Manchmal waren sie prophetisch. Denn wenn ich in niedergeschlagener Stimmung war, benutzte ich sie sogar als eine Art
Sortes
, schlug wahllos an irgendeiner Stelle das Buch auf und wurde nur selten in meiner Erwartung enttäuscht, dass etwas auf der Seite mich auf ganz besondere Weise ansprechen würde.
Aber das Werfen der Lose ist nicht immer ein Quell des Trosts.
Eines Tages, als ich in der College-Bibliothek an meinem Manuskript arbeitete, verspürte ich den Drang, in die Gedichte einzutauchen.
Ich schlug den Band auf und las das erste Gedicht, auf das mein Blick fiel.
Guten Morgen – Mitternacht –
Ich komm nach
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