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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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ohne Wenn und Aber. Er brauchte also keine dramatische Struktur. Er hatte ein Gewehr. Also benutzte er es.«
    »Trotzdem kam auch er nicht ohne Inszenierung aus«, beharrte Pascoe. »Der Gedichtband von Emily Dickinson, der auf dem Schreibtisch lag, das Gedicht, das aufgeschlagen war. Wie geht es doch gleich?
Er prüfte, schwankte, warf die Schlinge ins Aus und ins Jetzt …
«
    »
Ins Aus und ins Vorbei
«, korrigierte sie. »
In einen Sinn verstrickt, als sei erblindet sein Verstand.
«
    »Klingt für mich nicht nach Nüchternkeit«, sagte Pascoe zweifelnd. »Klingt eher nach jemandem, der das Gefühl hat, dass ihm alles entgleitet. Und dennoch scheint er alles sehr methodisch angegangen zu sein. Warum, meinen Sie, hat er das Buch auf dem Schreibtisch liegen lassen?«
    Hier befand er sich auf dünnem Eis, wurde ihm bewusst. Er befragte eine Frau nach dem Selbstmord ihres ersten Mannes, während ihr zweiter jeden Moment zurückkehren konnte. Nach dem Wenigen, was er von Kafka mitbekommen hatte, erschien er ihm nicht als jemand, der besonders liebenswürdig darauf reagierte, wenn seine Frau einen tränenreichen Nervenzusammenbruch erlitt.
    Aber Kay sah nicht aus, als würde sie in Tränen ausbrechen. Ihre Miene zeugte von ernstem Mitgefühl, weniger von schmerzlicher Trauer. Es stand ihr.
    Sie war, wie er sich erneut und fast überrascht bewusst machte, als wäre es ihm bislang irgendwie entgangen, eine wirklich schöne Frau.
    »Das Gedicht«, sagte sie, »war eine Botschaft an mich. Ich hatte ihm das Buch geschenkt, und weil er wusste, wie viel es mir bedeutete, hatte er sich wirklich angestrengt, um mit Dickinson zurande zu kommen. Aber oft ertappte ich ihn dabei, wie er verblüfft und frustriert darin las, wie ein Kind, das sich mit etwas beschäftigen soll, wozu es noch gar nicht in der Lage ist. Einmal sagte er mir, dass es ihn ärgere, dass solche kurzen Gedichte, diese wenigen Zeilen, eine Hand voll Worte, sich ihm nicht erschließen wollten.«
    »
Fühlte empor, ob dort ein Gott, und unten nach sich selbst
«, sagte Pascoe leise.
    Sie lächelte ihn kurz an und fuhr fort: »Ich denke, was er mir mit dem aufgeschlagenen Buch sagen wollte, war Folgendes:
Hör zu, Liebes, dieses hier hab ich doch noch verstanden. Jetzt weiß ich, was es bedeutet.
Er bot mir damit den einzigen Trost an, der ihm einfiel. Ich glaube, er wollte mir einen Abschiedsbrief schreiben und erklären, was in ihm vorging, mir sagen, dass es ihm leid tut, und dabei musste er feststellen, dass seine Worte nicht angemessen waren. Also entschied er sich für Emily Dickinson und ließ sie statt seiner sagen, wie er sich fühlte. Und indem er ihr Gedicht benutzte, sagte er mir, dass er mich liebt.«
    Sie verstummte.
    Pascoe war tief bewegt. All die schmutzigen Dinge, die über diese Frau gesagt worden waren, schienen lediglich auf Neid und Verbitterung zu gründen. O ja, sie konnte einen wirklich in ihren Bann ziehen.
    Es war an der Zeit, dass er selbst was aus dem Hut zauberte, wenn er es denn konnte.
    Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr das Blatt, auf dem er Gedicht Nr. 870 kopiert hatte.
    »Kennen Sie das hier?«, fragte er.
    Sie nahm das Blatt entgegen, faltete es auseinander, legte es auf den Tisch, um es glatt zu streichen, und las es dann mit ausdrucksloser Miene.
    Als sie damit fertig war, sagte sie: »Emily Dickinson, natürlich. Ich hab es schon mal gelesen, aber ich kann nicht behaupten, dass ich es kenne.«
    »Oh, ich dachte, Sie seien Expertin …«
    Sie lächelte. »Ich bin nur insofern Expertin, weil ich weiß, wie schwierig sie manchmal sein kann. Wie verstehen Sie es? Andy Dalziel hat mir gesagt, Sie könnten mit einem Hochschulabschluss glänzen.«
    Es gefiel ihm, mit welcher Leichtigkeit sie ihre Bekanntschaft mit dem Dicken einfließen ließ, und auch der Schalk, der ihr dabei in den Augen saß und womit sie suggerierte, dass Dalziel wahrscheinlich etwas gesagt hatte wie:
Cleverer Bursche, dieser Pascoe, ist auf die Uni gegangen und trotzdem kein so schlechter Polizist geworden.
    Er sagte: »Mir scheint, es geht um Täuschung, Betrug, Verlust. Sie sagt wohl, dass wir uns die Suche nur ausdenken, sie für uns selbst erfinden, um unserer Existenz einen Sinn zu verleihen, aber das einzige Ergebnis dessen ist, dass wir dadurch ebenso trügerisch werden wie das, was wir uns ausgedacht haben.«
    »Wow, jetzt verstehe ich, was Andy meinte.«
    »Aber ich weiß so wenig über sie«, fuhr er fort. »Gehört sie zu den

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