Welch langen Weg die Toten gehen
geführt haben dürfte.
Er hatte Recht. Und Rosie hatte ebenfalls Recht gehabt. Jedenfalls soweit sie es zu sehen vermochte.
Am Terrassenfenster stand Dolly Upshott und sah hinaus in den Garten. Sie sah blass aus und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Ihr braunes Haar wirkte noch aufgelöster als sonst. So, wie sie hier vor ihm stand, in einem Fair-Isle-Pullover, einem passenden Tweed-Rock und flachen Brogues, war es noch immer schwer vorstellbar, dass das, was sie jetzt mit ihrer Anwesenheit bezeugte, wirklich der Wahrheit entsprach.
»Hab Ihre Nachricht erhalten«, sagte sie mit bewundernswerter Direktheit. »Ich hab kurz daran gedacht, abzuhauen, aber wozu? Also hab ich Ihre Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen. Tut mir wirklich leid, dass ich Sie zu Hause belästige, aber ich dachte mir, wenn ich in Ihrem Laden auftauche, nehme ich mir wahrscheinlich jede Chance, diese Sache unter Verschluss zu halten. Ich meine, dort würde ich doch sofort in die Folterkammer gesteckt, oder? Recorder, Zeugen, glühende Zangen, der ganze Apparat.«
Ihr Versuch, witzig zu sein, offenbarte mehr ihren aufgewühltem Zustand, als es mit hysterischen Tränen möglich gewesen wäre.
»Nehmen Sie bitte Platz, Miss Upshott«, sagte er. »Ich hatte noch kein Frühstück, und ich brauche mindestens eine Tasse Kaffee, bevor ich richtig funktioniere. Kann ich Ihnen auch einen bringen?«
»Kaffee wäre nett«, sagte sie.
Er ging hinaus und lief leise die Treppe hoch. Ellie schlug die Augen auf, als er ins Schlafzimmer kam.
»Was?«, sagte sie.
»Tut mir leid, kannst du Rosie zu ihrer Stunde bringen?«
»Mein Gott! Es ist wirklich ein uneheliches Kind?«
»Viel schlimmer«, sagte er. »So schlimm, dass ich vielleicht sogar für den dicken Andy zu spät komme.«
»Na, wenn’s so ist, was zählt dann schon eine kleine Unbequemlichkeit, die ich dafür in Kauf nehmen muss. Gut.«
»Danke. Du hast was gut bei mir.«
»Das wirst du auch einlösen«, rief sie ihm hinterher.
Er holte einen Mikrokassettenrecorder aus seinem Arbeitszimmer, ging in die Küche, machte zwei Tassen mit Instantkaffee und trug sie ins Wohnzimmer.
»Also, Mrs. Upshott«, sagte er.
»Was soll ich tun?«, fragte sie. »Ich will alles aus der Welt schaffen, hier und jetzt. Sie haben in Ihrer Nachricht gesagt, dass Sie ins Pfarrhaus kommen wollen. Bitte, das würde ich nicht ertragen. Ich mach alles, aber David darf nichts erfahren, in Ordnung?«
Obwohl es ihm immer schwer fiel, hatte Pascoe schon vor langer Zeit die Polizistenkunst der unverbindlichen Versprechen und widerruflichen Vereinbarungen gelernt.
Er lächelte mitfühlend und sagte: »Mrs. Upshott, in dem Fall ist es am besten, wenn Sie mir alles frank und frei erzählen. Je offener, umso besser.«
Er stellte den Recorder zwischen ihnen auf den Tisch.
Sie schien ihn nicht zu bemerken, sondern musterte nach wie vor eindringlich sein Gesicht, bis er das Gefühl hatte, dass aus seinem mitfühlenden Lächeln ein zynisches Grinsen geworden war.
Schließlich schloss sie die Augen, als wollte sie das, was sie gesehen hatte, mit ihrem inneren Bild abgleichen.
Als sie sie nach fast einer Minute wieder aufschlug, sagte sie mit kindlicher Stimme: »Gut. Dann werde ich alles erzählen.«
2
Dolly
M
ensch, wo um alles in der Welt soll ich anfangen? Also man könnte ja denken, dass etwas, was ein solches Ende hat, einen klaren Anfang haben müsste, nicht wahr? Auf die Plätze – fertig – peng! Aber so funktioniert das Leben nicht, oder? Ich vermute, eigentlich begann es, als Mutter starb. Oder vielleicht, als sie krank wurde. Ich wohnte damals noch zu Hause, verstehen Sie? Das war in Chester, kennen Sie das? Tut mir leid, spielt wohl keine Rolle. Ich arbeitete damals in einer Bank, nichts Aufregendes. Nach einer Weile wird auch Geld langweilig, obwohl ich manchmal schon davon träumte … aber das sollte ich Ihnen vielleicht lieber nicht erzählen! Dann wurde Mutter krank und brauchte mehr und mehr Pflege. Die Bank war sehr zuvorkommend, und ich konnte Vollzeit-Teilzeit arbeiten, Sie verstehen schon. Aber irgendwann war auch das zu viel. Das letzte halbe Jahr vor dem Tod meiner Mutter wurde ich dann die ganze Zeit zu Hause gebraucht.
Danach, dachte ich, geht’s zurück in die langweilige Bank. Aber David fragte, warum ich nicht für eine Weile zu ihm kommen würde, schließlich hätte ich eine kleine Erholung nötig, und wenn er seine Schwester im Pfarrhaus hätte, würde das vielleicht auch die
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