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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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und zogen unweigerlich Staub an. Die Gläser hier sahen aus, als wären sie wochen-, monatelang nicht angefasst worden. Vielleicht sogar seit Jahren. Bis auf zwei.
    Vorsichtig nahm er eines davon in die Hand. Es hinterließ auf dem Schrankbrett einen feuchten Rand, als wäre es vor kurzem gespült und nicht ganz trocken eingeräumt worden.
    Letzte Nacht, dachte Pascoe. Wahrscheinlich hatte letzte Nacht jemand aus der Mutterschaftsgruppe ein Glas Wasser gewollt. Dann das Glas – die beiden Gläser – gespült und wieder ordentlich zurückgestellt? Unwahrscheinlich, wenn alle aufgescheucht herumrannten wie, nach Dalziels eleganter Beschreibung, blauärschige Flöhe.
    »Pete«, sagte Cressida hilflos, »stimmt hier etwas nicht, oder gehe ich allen für nichts und wieder nichts auf den Wecker?«
    Er stellte das Glas zurück, schloss den Schrank und ließ sich Zeit. Leicht war dem Drang zu widerstehen, gereizt auf jemanden zu reagieren, der wegen seiner Trauer anderen auf den Wecker ging. Sehr viel gefährlicher aber war der Drang zur Offenheit, wenn ein anderer an die Gefühle appellierte.
    Er setzte sich ihr gegenüber. »Ehrlich gesagt, Cress, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, es ist meine Aufgabe, nach möglichen Unstimmigkeiten zu suchen. Ich möchte absolut davon überzeugt sein, dass nichts übersehen wurde. Und wenn ich dessen sicher bin, ist meine Aufgabe erledigt. Aber Sie haben sich dann noch immer mit einem Bruder auseinanderzusetzen, der so sehr unter Depressionen litt, dass er sich das Leben nahm, und Sie haben es nicht kommen sehen. Aber es ist zwecklos, sich dafür die Schuld zu geben. Nur weil Sie es nicht haben kommen sehen, heißt das nicht, dass es Ihr Fehler war.«
    »Na, das ist wirklich ein großer Trost«, sagte sie. Kurz blitzte ihre alte Angriffslust auf. »Huch. Tut mir leid. Ich fang schon wieder damit an. Nein, das wirkliche Problem ist – als ein Maciver ist es so, als ginge man mit mehreren Leuten aus, die dann alle so betrunken sind, dass keiner mehr weiß, was er im Lauf des Abends hatte, weshalb es am Ende am einfachsten ist, die Rechnung zu teilen, damit alle das Gleiche bezahlen. Mit anderen Worten, wir sind als Familie so am Arsch, dass kollektive Schuldgefühle an der Tagesordnung sind. Was uns natürlich nicht davon abhält, jedes Mal wieder mit dem Finger auf die anderen zu zeigen.«
    Sie verstummte und fixierte ihn mit ihren großen, fast violetten Augen.
    »Alles«, sagte er, »was Sie sagen können, damit wir Pal besser verstehen, kann nützlich sein.«
    »Was zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel, warum er den Tod seines Vaters kopiert hat. Aus welchem Grund, meinen Sie, hat er das getan?«
    Sie sah ihn zweifelnd an, dann zuckte sie mit den Schultern.
    »Warum nicht?«, sagte sie. »Wenn ich hier in dem Haus sitze, in dem ich geboren wurde, dem Haus, in dem meine Mutter gestorben ist und mein Vater und mein Bruder sich den Kopf weggeballert haben, vielleicht kann ich dann ein paar Geister aufscheuchen, wenn ich erzähle, wie es war.«

11
    Cressida
    I
ch erinnere mich nicht, eine unglückliche Kindheit gehabt zu haben, deshalb muss es wohl eine glückliche gewesen sein.
    Aber mit Sicherheit weiß ich nur, dass ich mich glücklich fühlte, wenn Pal da war, und nicht so glücklich, wenn er nicht da war.
    Pal und ich hatten ein sehr enges Verhältnis, wir waren eine Einheit, fast so wie Zwillinge, würde ich sagen, obwohl wir drei Jahre auseinanderlagen. Es war nichts Sexuelles zwischen uns, das will ich gleich aus der Welt schaffen, falls Sie auf komische Gedanken kommen und meinen sollten, das laufe auf eine großen inzestuöse Leidensgeschichte hinaus. Gut, wir haben uns gegenseitig als biologische Schaubilder verwendet, als es darum ging, mit diesem ganzen Wo-kommen-die-Babys-her-Zeug zurechtzukommen, aber als wir dann von der Theorie zur Praxis umstiegen, ging jeder seinen eigenen Weg. Was in Pals Fall ganz einfach war. Er war immer der absolut umwerfende Typ. Ich schätze, die Hälfte meiner Freundinnen war nur mit mir befreundet, weil ich seine Schwester war.
    Meine Mutter. Als sie starb, war ich elf. Hatte gerade zum ersten Mal meine Periode, die Teenagerjahre lagen vor mir, die Zeit, in der ein Mädchen seine Mutter am meisten braucht, aber glaubt, sie bräuchte sie am wenigsten. Mum gehörte zu diesen stillen kleinen Frauen, die man erst wahrnimmt, wenn sie nicht mehr da sind. Dann denkt man an all die Dinge, die man hätte machen oder sagen können, um ihr zu verstehen

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