Welch langen Weg die Toten gehen
zu geben, dass man sie liebt. Das heißt, nachdem man sich natürlich die Schuld dafür gegeben hat, dass sie gestorben ist.
In den drei Jahren nach Helens Geburt war es ihr nicht mehr gut gegangen. Ich kenne Mädchen, die ganz mütterlich werden, wenn sie eine kleine Schwester bekommen, aber vielleicht war der Altersunterschied zwischen uns einfach zu groß. Oder es lag vielleicht daran, weil es Mum so schlecht ging, sie war die ganze Schwangerschaft über krank, und die Geburt war lang und hart. Danach war sie nicht mehr dieselbe. Sie wirkte ausgelaugt, erschöpft, und Helen war ein quäkendes, immerzu quengelndes Baby, das sich alles einfing, was sich ein Baby so einfangen konnte. Aber sie kam schließlich durch. Als hätte sie alles auf einmal und ganz früh gehabt, und das war’s dann. Ich glaube, seitdem sie zweieinhalb war, hatte sie nichts Schlimmeres mehr als eine Erkältung. Manchmal kommt es mir so vor, als habe Mum sie angesehen und sich dabei gedacht, so, jetzt bist du übern Berg, und dann hat sie sich entspannt und ist einfach gestorben.
Herzversagen nannten es die Ärzte. Vager geht es nicht. Nachdem ich ihr nicht mehr die Schuld an ihrem Tod geben konnte, gab ich sie Helen. Und natürlich meinem Vater.
Daddy war nicht oft da, weshalb ich wohl auch ein so enges Verhältnis zu Pal hatte. Ich hab natürlich Fotos, auf denen Mum und Daddy zusammen zu sehen sind, aber komisch, in meiner Erinnerung sehe ich sie nie zusammen. Kein einziges Mal.
Nach dem Tod von Mum zog Tante Vinnie für eine Weile bei uns ein. Damals war ihr exzentrisches Benehmen noch nicht so auffällig wie heute, aber doch schon ziemlich fortgeschritten. Für ein elfjähriges Mädchen gibt es so gut wie nichts, was ihm nicht peinlich sein könnte, und ich fand Tante Vinnie überaus peinlich. Wenn ich ein paar Freundinnen zu Besuch hatte, um Platten zu hören, kam sie plötzlich reingestürmt und bestand darauf, dass wir alle rausgingen und uns so einen gesprenkelten Zwitscher-Waldsänger ansahen, aber bis wir rauskamen, war der natürlich längst verschwunden, und dann hingen wir endlos dort rum und warteten, dass er zurückkam, obwohl es minus zwei Grad hatte und regnete. Die Mädchen in der Schule begannen mit den Flügeln zu schlagen und zu pfeifen, wenn sie mich sahen. Ich hasste es.
Aber ich wollte von Dad erzählen. Er brauchte jemanden, der sich um Helen kümmerte, versteh ich ja. Und Vinnie war nicht die Lösung, jedenfalls nicht langfristig. Außerdem brauchte er jemanden, der sich ums Haus kümmerte. Und vor allem, das ist mir jetzt klar, auch jemanden, der sich um ihn kümmerte. In sexueller Hinsicht, meine ich. Er war ein großer, energischer Mann, und, um ehrlich zu sein, nachdem Mum Helen zur Welt gebracht hatte, lief da wohl nicht mehr viel, wenn überhaupt. Ich war nur ein Kind, wurde aber schnell erwachsen, und Mädchen haben einen Riecher für solche Dinge.
Die perfekte Lösung wäre eine Haushälterin gewesen, die auch als Kindermädchen arbeitete und mit ihm ins Bett stieg, also nur eine Frage der Stellenausschreibung, sorgfältiger Auswahl und dem Versprechen einer besonders großzügigen Weihnachtsgratifikation.
Aber Daddy war der große Geschäftsmann. Er glaubte einen Weg zu finden, um alles drei zu bekommen, ohne auch nur einen Penny für Stellenanzeigen oder Arbeitslohn auszugeben.
Er bekam Kay.
Was waren ihre Motive? Nicht Liebe, ich glaube nicht an die Liebe. Sie war jünger als ich jetzt, hatte einen guten Job und tolle Karriereaussichten. Was zum Teufel fand sie an einem mittelältlichen Geschäftsmann aus Yorkshire mit einem lahmen Bein und drei Kindern? Sie könnten auf Jane Eyre und Mr. Rochester verweisen. Hören Sie zu, an Daddy war nichts Romantisch-Geheimnisvolles, glauben Sie mir. Gut, sein Vater – mein Großvater – war ein Ire, aber in Daddy hatten die kleinen grünen Gene längst die Schlacht gegen den Yorkshire-Pudding verloren. Pal war überzeugt, dass es ein abgekartetes Spiel war. Ashur-Proffitt war scharf auf die Firma Maciver, und als Daddy hoch pokerte, erhöhten sie nicht einfach den Einsatz, sondern sagten Kay, sie solle ihren Rock lüpfen. Warum musste sie die Sache ganz durchziehen und ihn heiraten? Vielleicht wollten sie jemanden, der ihm nah stand und ein Auge auf ihn hatte, falls er sich gegen die Neuorganisation der Firma sträuben sollte. Vielleicht sah sie die Chance, sich nach einigen Jahren als reiche Geschiedene mit einer hübschen Abfindung aus dem Staub machen
Weitere Kostenlose Bücher