Wellentänze: Roman (German Edition)
Kanalführer, der aufgeschlagen auf dem Lukendeckel lag. »Ich zeige Ihnen, wohin wir fahren. Sehen Sie mal her.«
Julia folgte der Linie seines Fingers, während er die Seiten umblätterte. »Ich verstehe. Und was bedeuten all diese kleinen Pfeile?«
»Das sind Schleusen. Heute werden wir, was das betrifft, keine Probleme haben. Wir fahren nur durch den Grand Union Canal, der, wie Sie sich sicher erinnern, so breit ist, dass wir beide Boote gleichzeitig durch die Schleusen bekommen. Aber wenn wir hier abbiegen« – sein Finger zeigte auf die betreffende Stelle – »haben wir nur noch Einzelschleusen vor uns und müssen nacheinander durchfahren.«
Julia wollte gerade fragen, wie sie das nicht motorisierte Boot durch die Schleuse manövrieren wollten, da bemerkte sie, dass vor ihnen irgendetwas nicht stimmte.
»O mein Gott«, rief Ralph. »Was ist denn jetzt schon wieder los? Er hat den Motor abgestellt.«
Das Motorengeräusch erstarb, sodass jetzt Jasons Stimme zu hören war, der mit sehr blumigen Ausdrücken über Suzy herfiel.
»Schrei mich nicht an!«, blaffte sie zurück. »Es ist, verdammt noch mal, nicht meine Schuld, wenn eine Matratze im Kanal schwimmt! Ich kann nicht zwanzig Meter voraus durchs Wasser sehen! Genauso wenig wie du übrigens!«
Selbst in zwanzig Metern Entfernung hätte Julia am liebsten noch den Kopf eingezogen. Ralph kletterte auf das Dach und lief über das hintere Boot zum Motorboot hinüber, dann sprang er auf dessen Achtersteven und verschwand im Motorraum. Julia wusste nicht, ob sie ihm folgen und Suzy moralische Unterstützung leisten oder sich besser aus der Schusslinie halten sollte.
Sie entschied sich für letztere Alternative und überlegte gerade, ob sie versuchen sollte, den Ofen in Gang zu bekommen, als sie lautes Rufen hinter sich hörte.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihr Boot aus dem Weg zu bringen?« Es war eine kleine, grimmige Frau in einem marineblauen Trainingsanzug, die offenbar an zu vielen Selbstbehauptungskursen teilgenommen hatte. Sie stand vorn auf einem winzigen Plastikboot, das trotz seiner geringen Größe genauso pompös wirkte wie seine Besitzerin. »Nur weil Sie viermal so groß sind wie alles andere auf dem Kanal, haben Sie noch lange nicht das Recht, ihn zu blockieren!«
Bevor Julia sich entschuldigen, etwas erklären oder irgendeine Geste der Unterwerfung machen konnte, holte die Frau abermals tief Luft und lief jetzt erst zur Hochform auf. »Diese Boote sind viel zu groß für solch kleine Kanäle. Man sollte sie ganz verbieten. Mein Mann ruft gerade über Handy die Kanalaufsicht an. Er wird schon dafür sorgen, dass Sie aus dem Weg kommen! So stehen Sie doch nicht einfach mit offenem Mund da. Tun Sie etwas!«
Kapitel 5
O hne den Zug des Motorbootes war das Heck des Butty tatsächlich quer über den Kanal getrieben und versperrte die Durchfahrt. Julia fühlte sich nur ganz kurz versucht, um Hilfe zu rufen. Dies war ihre Chance zu beweisen, dass sie genauso gut mit Booten umgehen konnte wie jeder andere auch.
Das fortgesetzte Geschrei der Frau im blauen Trainingsanzug machte die Sache indes nicht besser. Julia kletterte nervös auf das Dach des Bootes und entdeckte dort den langen Staken, der an der Reling lag. Sie umfasste ihn mit beiden Händen und stieß sich vom gegenüberliegenden Ufer ab. Dabei setzte sie ihre ganze Kraft ein, und zu ihrer Überraschung ließ sich die Thisbe ziemlich mühelos bewegen. Mit einem weiteren Stoß bekam sie das Boot wieder in die Mitte des Kanals, direkt hinter die Pyramus.
Instinktiv schaltete sie ihr Programm zur Beschwichtigung entrüsteter Kunden ein und wandte sich mit würdevoller Haltung an die rotgesichtige Frau. »Ich denke, Sie werden entdecken, dass die Kanäle für Boote von diesen Ausmaßen entworfen wurden. Sie werden überdies feststellen, dass Sie jetzt reichlich Platz haben vorbeizufahren. Ich entschuldige mich für jede Unannehmlichkeit, die wir verursacht haben.«
In diesem Augenblick kam der Ehemann der geharnischten Frau mit einem Handy aus der Kabine. »Die Kanalaufsicht sagt, es könnte frühestens heute Nachmittag jemand hier sein.«
»Wir können weiterfahren, du Dummkopf!«, blaffte die Frau, die, nachdem Julia sie in die Schranken verwiesen hatte, jetzt über ihren Mann herfiel. »Warum musst du immer so ein Getue machen?«
Julia sah zufrieden zu, wie die beiden an ihr vorbeituckerten. Es hatte ein Problem mit dem Boot gegeben, und sie hatte es ganz allein
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