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Wellentraum

Wellentraum

Titel: Wellentraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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Sie konnte jeden Morgen laufen gehen und sich nachmittags auf den Unterricht vorbereiten. Die Gartengruppe, die sie betreute, traf sich zweimal pro Woche. Sie arbeitete ehrenamtlich in der Kirche und in der Bibliothek. Wenn sie sich ein bisschen anstrengte und auch noch etwas Glück hatte, konnte sie sich vom Haus fernhalten und den Strand meiden, bis die Schule wieder anfing.
    »Das wirft dich zurück, oder?«, flüsterte ihr Bruder Caleb hinter ihr.
    Erstaunt wandte Lucy den Kopf. Sie hatte ihn kurz gesehen, bevor das Programm begonnen hatte, umrundet von Männern, die es gar nicht erwarten konnten, dem heimkehrenden Kriegshelden der Insel die Hand zu schütteln. Aber sie hatte gedacht, dass Caleb hinaus auf den Parkplatz gehen würde, um den Verkehr zu regeln, sobald die Kinder das Schlusslied anstimmten.
    Sie spürte, wie sie ein wohliger Schauer überlief, weil er stattdessen zu ihr gekommen war.
    »Schön, dass du da bist.«
    »Zur Abwechslung mal.«
    Caleb hatte sie großgezogen, seitdem sie … nun ja, seitdem sie Windeln getragen hatte. Nachdem ihre Mutter verschwunden war und ihren dreizehnjährigen Bruder mitgenommen hatte, war niemand mehr da gewesen, um diesen Job zu erledigen. Vor allem nicht ihr Vater, der als Reaktion auf den Weggang seiner Frau bei seinem Boot und der Flasche Zuflucht genommen hatte.
    Caleb war weggezogen, um aufs College zu gehen, als Lucy in die dritte Klasse kam. Aber sie erinnerte sich daran, dass er bei der Jahresabschlussfeier immer ganz hinten in der Aula gestanden hatte – ihr hoch aufgeschossener, freundlicher, unglaublich cooler, bemerkenswert toleranter großer Bruder.
    »Du bist so oft gekommen, wie du konntest.«
    »Nicht oft genug.« Caleb starrte auf die Reihen von Klappstühlen, auf denen Eltern und Großeltern Platz genommen hatten. Die gesamte Hopkins-Familie war erschienen, um Sohn Matts Highschool-Abschluss auf dem Festland zu würdigen. Regina Barone saß in einer schwarzen hautengen Jeans und einer schicken weißen Bluse neben ihrer Mutter Antonia, die einen lila Nickitrainingsanzug trug, um dabei zu sein, wie Nick in die nächste Klasse vorrückte. »Ich habe deinen College-Abschluss verpasst.«
    »Du warst doch beschäftigt.«
    Er war im Irak gewesen. Noch etwas, über das sie nie sprachen.
    Lucy versuchte es noch einmal. »Jedenfalls ist Dad gekommen.«
    »Ja. Du hast es in deiner Mail geschrieben. Wie ist es denn gelaufen?«
    Nicht so gut. Bart Hunter verfolgte die Zeremonie mit düsterem Blick und trank sich durch das Abendessen. Er fühlte sich mit Krawatte nicht wohl und in dem belebten, trendigen Restaurant, das sie ausgesucht hatte, fehl am Platz. Nicht einmal das Geklapper aus der Küche und das Lachen von den anderen Tischen konnte das Schweigen zwischen ihnen übertönen.
    »Großartig«, antwortete Lucy. »Über die Blumen, die du geschickt hast, habe ich mich sehr gefreut.«
    Seine Augen wurden schmal. Nun, sie hatte nicht erwartet, dass er sich genauso leicht ablenken ließ wie ihre fünfjährigen Schüler.
    »Und über den Scheck auch«, fügte sie hastig hinzu. »Das war unglaublich großzügig.«
    »Ich dachte, du könntest das Geld gebrauchen, wenn du wegziehst. Vielleicht nach Augusta oder nach Portland.«
    Lucy öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder.
    »Warum bist du zurückgekommen, Lucy?«, fragte Caleb.
    Es war eine vernünftige Frage. Aber ihr Bruder war immer vernünftig.
    Weshalb sie ihm niemals würde erklären können, warum sie sich dazu entschlossen hatte zurückzukehren. Zurück in das dunkle, kalte Haus, in dem sie groß geworden waren, in die zugigen Zimmer, in denen die Hülle ihres Vaters und die Geister ihrer Mutter und ihres Bruders umgingen.
    Zurück auf die Insel, auf der jeder – auf Gedeih
und
Verderb – ihren Namen und ihre Arbeit kannte.
    Zurück an die See, die sie fürchtete und ohne die sie nicht leben konnte.
    Sie hatte es versucht. Einmal. Sie war weggelaufen und von Port Clyde bis nach Richmond getrampt, wo sie schließlich auf dem schmutzigen Toilettenboden einer Tankstelle endete und sich die Eingeweide aus dem Leib kotzte. Bei der Erinnerung daran wurde ihr noch immer übel.
    Grippe, stellte der Inseldoktor fest, nachdem Caleb sie gefunden und nach Hause gebracht hatte.
    Stress, sagte die Arzthelferin auf der College-Krankenstation, als sie bei einem Besuch in Dartmouth kollabiert war, wo man ihr ein Stipendium angeboten hatte.
    Lucy kannte weder die Gründe dafür, noch verstand sie sie. Aber durch

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