Wellentraum
»Margred?«
Sie erschauerte, als sie die tiefe Stimme hörte. Sie klang fast wie …
»Bist du allein?« Eine große männliche Gestalt erschien unter dem Türbogen. Sie war in die derbe Kluft eines Fischers gekleidet – eine Hose aus Segeltuch und ein Hemd –, die die außerordentliche Schönheit des Mannes jedoch nicht verbergen konnte.
Dylan.
Der junge Selkie hatte vor Jahren ein Revier für sich beansprucht, das an das ihre angrenzte. Sie tolerierte ihn wegen seiner Jugend und seines galligen Humors. Nun ja, und weil man ihn sehr gern ansah, so leidenschaftlich und zugleich gut erzogen, wie er war. Einmal hatte sie sogar darüber nachgedacht …
Sie lächelte halb und schüttelte den Kopf. Er nahm sich selbst zu ernst, als dass er ihr behagt hätte.
Er hatte Englisch gesprochen, daher antwortete sie ihm in derselben Sprache. »Wie du siehst.«
Dylan kam quer durch das Turmzimmer auf sie zu und stützte die Ellbogen auf das Fenstersims neben ihr. Er posiert, dachte sie.
Der Wind zerzauste sein dunkles Haar. »Vielleicht bist du ja zu viel allein«, sagte er.
Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Sprichst du für dich selbst? Oder für den Prinzen?«
»Conn macht sich natürlich Sorgen um dich.«
»Ich wüsste nicht, warum.«
»Er will, dass du hier glücklich bist.«
»Er will, dass ich Selkie-Babys werfe, meinst du wohl.«
»Der Prinz ist beunruhigt über unsere schwindende Zahl«, entgegnete Dylan vorsichtig. »Bei der letzten Zählung waren weniger als zweitausend unseres Volkes übrig.«
Margred hob die Augenbrauen. »Bei der letzten Zählung? Glaubt Conn wirklich, dass der König und die anderen, die unter den Wellen leben« – das war die höfliche Umschreibung für jene Selkies, die niemals menschliche Gestalt annahmen –, »sich seiner Zählung stellen?«
»Du kannst nicht leugnen, dass jedes Jahr weniger von uns geboren werden.«
Sie leugnete gar nichts. Ihr Unvermögen, ihrem Gefährten ein Kind zu schenken, hatte ihr vor vier oder fünf Jahrzehnten wahrhaften, wenn auch geheimen Kummer bereitet.
Sie tat so, als wäre es ihr gleichgültig, und zuckte mit den Schultern. »Eine niedrige Geburtenrate ist der Preis, den unser Volk für die Unsterblichkeit zahlt. Sonst würden die Ozeane von uns überschwemmt werden.«
»Stattdessen sinken unsere Zahlen. Es mag früher ein Gleichgewicht für unser Volk gegeben haben, aber nun sterben zu viele von uns.«
»Um in der See wiedergeboren zu werden«, ergänzte Margred. »Wie es schon immer war.«
Wie es auch bei ihr gewesen war, vor sieben Jahrhunderten.
»
Nicht
immer. Selkies, die ohne ihr Seehundfell sterben, werden nicht wiedergeboren. Sie hören auf zu existieren.«
Die Erinnerung quoll wie frisches Blut aus einer alten Narbe. »Mein Gefährte wurde von Wilderern getötet. Du musst mir nicht erklären, was mit einem Selkie passiert, der ohne sein Fell stirbt.«
Dylan beobachtete sie aufmerksam. »Ich habe dich verletzt.«
Aber sie würde ihm nicht einmal diese Genugtuung lassen. »Es ist, wie es ist. Vielleicht hätte er sein Schicksal sogar selbst gewählt. Ein endloses Dasein hat seine eigene … Last.«
»Du bist unzufrieden?«
Unzufrieden, rastlos, leer, allein …
Sie hob das Kinn. »Ich bin gelangweilt.«
Sein scharfer Blick ruhte auf ihrem Gesicht. »Wie ich höre, hast du dich an Land amüsiert.«
»Und das interessiert dich, weil …?«
»Vielleicht wäre dir mehr gedient, wenn du dich wieder auf deinesgleichen besinnen würdest.«
Sie neigte den Kopf. »Willst du für den Prinzen kuppeln, Dylan?«
»Ich richte nur eine freundliche Warnung aus. Es hat seine Gefahren, wenn man sich mit Menschen einlässt.«
»Du bist selbst halb Mensch, oder?«
Sein Mund wurde schmal. »Es ist unmöglich, etwas halb zu sein. Du bist ein Selkie, oder du bist es nicht. Du lebst im Meer, oder du stirbst an Land. Ich bin ein Selkie wie meine Mutter.«
Also hatte sie einen wunden Punkt berührt. Sie stocherte nochmals darin herum, wie Kinder an Land Stöckchen auf Quallen werfen, um sie zucken zu sehen. »Aber dein Vater war ein Mensch.«
»Ich spreche nicht über meinen Vater.«
»Dann erzähl mir von deiner Mutter.«
»Sie ist ertrunken. In einem Fischernetz.« Der Schrei der Möwen wurde vom Wind heraufgetragen. Dylan wandte den Kopf und fasste Margred ins Auge. »Weil sie sich zu nah ans Ufer gewagt hat.«
»Noch eine Warnung?«, fragte Margred leise. »Sei vorsichtig, Dylan. Ich lasse mich nicht gern
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