Wellenzauber
und ich bin müde. Ich brauche dringend eine Pause.«
»Red keinen Blödsinn. Du gehst bald in Rente, dann kannst du dich so viel ausruhen wie du willst«, kam es ungerührt zurück.
Haber stöhnte innerlich auf. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du von mir willst.«
»Ich komme ja schon dazu. Erinnerst du dich an das Baby? Das mit der Nabelschnur?«
»Wie könnte ich das je vergessen.« Plötzlich hatte er alles wieder vor Augen. Er war damals noch ein junger, unerfahrener Arzt gewesen und hätte um ein Haar einen schrecklichen Fehler begangen. Ohne Martha wäre seine Karriere an jenem Tag vor fast vierzig Jahren vermutlich zu Ende gewesen. Sie besaß selbst auch nicht viel mehr Erfahrung als er, aber sie verfügte schon damals über diesen sicheren Instinkt, der sie zur besten Hebamme weit und breit machte. Sankt Marien war noch ein kleines Kreiskrankenhaus, das unter chronischem Personalmangel litt, weil die guten Leute lieber nach Hamburg oder Hannover gingen.
An jenem Tag waren Reinhold Haber und Martha Schmidt allein auf der Entbindungsstation, als eine hochschwangere Bäuerin eingeliefert wurde. Mit der Geburt wollte es nicht so recht vorangehen, aber Haber beharrte auf seiner selbstgerechten Meinung, nach der die Frau ihr Kind gefälligst unter Schmerzen auf natürlichem Wege gebären sollte. Da griff Martha einfach zu einem Skalpell und hielt esihm an die Halsschlagader. »Entweder du machst jetzt einen Kaiserschnitt, du eingebildeter Idiot, oder ich schneide dir die Kehle durch.«
Ihr Instinkt erwies sich als lebensrettend. Das Baby wurde geholt, und Haber sah als Erster, dass die Nabelschnur eng um den Hals gewickelt war. Bei einer natürlichen Geburt wäre es stranguliert worden.
Der Professor machte sich nichts vor. Hätte Martha damals nicht eingegriffen, wäre er heute kaum Chefarzt der Geburtsklinik.
Plötzlich fühlte er wieder Zorn in sich aufsteigen. »Was soll das, Martha? Willst du mir drohen? Nach bald vierzig Jahren? Das ist doch alles längst verjährt.«
»Ich dir drohen? Nein, wie kommst du nur darauf? Obwohl sich so ein Vorfall natürlich auch im Nachhinein in deinem makellosen Lebenslauf nicht so gut machen würde, was meinst du?«
»Martha!«
Miriam Pietsch steckte neugierig ihren Kopf zur Tür hinein. »Alles in Ordnung, Professor?«
Er winkte sie mit einer barschen Geste wieder hinaus und senkte seine Stimme, als er weitersprach. »Martha, komm endlich zur Sache.«
Als sie ihm sagte, was sie von ihm wollte, war er für einen Moment sprachlos. »Das kannst du nicht von mir verlangen, sagte er dann. Meine Frau …«
»Die wird es schon verstehen, wenn du ihr die Tatsachen klug erklärst.«
»Aber …«
»Reinhold, ich bitte dich darum. Es ist wirklich wichtig. Und wenn alles so klappt, wie ich hoffe, kann ich bald zu meiner Nichte nach Hamburg ziehen.«
»Warum?«, fragte er verwirrt.
»Weil ich genauso alt bin wie du und weil ich endlich mal die Füße hochlegen will, du Volltrottel. Ist das so schwer zu verstehen? Fünfundvierzig Jahre Schufterei als Hebamme sind wirklich mehr als genug, und die große Hitze hier im Sommer vertrage ich auch nicht mehr wie früher. Meine Beine … Na, egal. Also, ich verlass mich auf dich. Ciao, Bello.«
»Auf Wiederhören«, erwiderte Haber steif, obwohl er sich genau das Gegenteil wünschte.
Der Professor legte auf, trat an das Fenster seines Büros und sah hinaus. Von hier oben hatte er einen weiten Blick über den Klinikpark von Sankt Marien, der nun schon seit Wochen unter einer hässlichen braunen Schlammschicht begraben war. Der Dauerregen wollte einfach nicht aufhören.
Haber stieß einen langen Seufzer aus. Er hatte sich auf Sardinien gefreut. Verdammt, ja! Sein letzter Urlaub lag einige Jahre zurück, und er fühlte sich manchmal entsetzlich müde. Und Christine … Er runzelte die Stirn. An seine Frau wollte er im Moment lieber nicht denken. Sie freute sich nämlich noch viel mehr auf den Urlaub als er selbst. Er konnte ihr enttäuschtes Gesicht schon regelrecht vor sich sehen und dachte lieber schnell an etwas anderes.
Zum Beispiel an die unglaubliche Geschichte, die ihm Martha eben erzählt hatte. Es ging darin um eine junge Hebamme an seiner Klinik. Sina Paulsen. Doch, das Mädchen war ihm ein Begriff. Klein und zierlich, aber stark, wenn es darauf ankam. Immer ein bisschen still und mit diesen großen grauen Augen, die nur selten lachten. So ein Mädchen fiel auf. Und es ging um Federico Bergmann. Nach zehn
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