Weller
zurückgeblieben, kontaktgestört und ungebildet, aber mit einem anständigen Kern, den man nur ansprechen müsste, um aus ihm einen guten Kerl zu machen. Er hätte kotzen können.
Er wollte keine Almosen, nicht das verhätschelte Schoßhündchen der Schlossherrin sein, von ihrem Wohlwollen abhängig, zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Er wusste zeitlebens nicht, wer er wirklich war, aber immerhin war ihm klar, wer oder was er nicht – niemals wieder – sein wollte: so hilflos, wie er als kleiner Junge gewesen war, als die Schläge seines Vaters unberechenbar wie ein plötzliches Unwetter auf ihn herniederprasselten und ihn so manches Mal schwer verletzt hatten. Später, als Jugendlicher, hatte er bei seinen Kumpeln in Grevesmühlen das erste Mal erfahren, wie es war, selbst in der Rolle desjenigen zu sein, der Schläge austeilt.
Da hatte er sich das erste Mal als einer der Stärkeren erlebt, den Schutz der Gruppe genossen. Aber irgendwann war auch diese Zeit vorbei gewesen: Als der Anführer von ihm verlangt hatte, ganz allein das Versammlungshaus auf dem alten Betonwerksgelände sauber zu halten, immerhin ein Bau mit mehr als hundert Quadratmetern, da hatte er sich nach und nach von der Kameradschaft zurückgezogen. Er war handwerklich begabt, hatte gerne kleine Reparaturen an dem maroden Bau vorgenommen, aber Böden schrubben, Klobecken scheuern und Fenster putzen würde er in seinem Leben nicht mehr. Dazu hatte ihn sein Vater, solange er am Leben gewesen war, gezwungen – meist mit Prügel. Er verwünschte seinen Alten noch immer dafür, dass er sich nach dem Tod seiner Mutter keine neue Frau gesucht, sondern seinen einzigen Sohn zur Hausarbeit gezwungen hatte, anstatt ihn auf das Leben vorzubereiten. Nein, lieber hatte er seine Tage mit Suff und Krakeelerei verbracht und ihn als Fußabstreifer missbraucht. Nun war der Alte tot und hatte selbst die Schuld daran.
Die Kameraden in Grevesmühlen sah er nur noch dann, wenn er eins der Konzerte im Versammlungshaus besuchte. Schnelle, aggressive Rockmusik mit Texten, die vom Erstarken der Bewegung handelten, der Vernichtung des Systems, das sie unterdrückte, von der Freiheit in der arischen Volksgemeinschaft, die sie alle ersehnten. Wenn er dort mit den anderen im Publikum stand, mitgrölte, nach jedem Lied den Arm zum Hitlergruß hob, spürte er wieder, wie die Kraft, die ihrer Bewegung innewohnte, ihn durchströmte, fühlte sich als Teil eines größeren Ganzen – ohne Zweifel, ohne Angst. Sie wollten alle dasselbe: Die Reinheit ihrer Nation, ein gesundes deutsches Volk, unabhängig von den Einflüssen der jüdischen Staaten wie den USA und Israel. So in etwa.
Durch seine Arbeit im Schloss Plüschow hatte sich alles verändert. Er hatte nicht nur weniger Zeit für die Kameraden. Er hatte auch das erste Mal in seinem Leben eine eigene Wohnung und darüber hinaus durch die Nähe zum Künstlerhaus etwas gefunden, das ihm mehr Befriedigung verschaffte als alles andere, mit dem er sich jemals beschäftigt hatte: das Malen.
Er würde sich niemals wieder demütigen oder missbrauchen lassen. Und diejenigen, die dies versuchten, würden dafür früher oder später bezahlen. Er hatte ein Elefantengedächtnis.
Dieser Riese, der ihn und seine Werke ausgelacht hatte. In seinen eigenen vier Wänden. Was bildete sich dieser … was hatte er gesagt, war er von Beruf, Bewährungshelfer? Was bildete sich dieser Bewährungshelfertrampel ein? Er hatte es satt, sich von Leuten wie ihm erniedrigen und beleidigen zu lassen. Jara Veselý hatte möglicherweise Recht, wenn sie ihn als ungebildet bezeichnete, und wirkliche Freunde hatte er auch keine. Doch er war ein … Arier mit genauso vielen Rechten wie alle anderen. Eines davon war Respekt. Er hatte diesem verlogenen Heuchler vertraut und der hatte ihm gegenüber, in seinem eigenen Haus, absolut keinen Respekt gezeigt.
Dafür würde er büßen.
***
Die neue Woche fing für mich mit einem Besuch in der Justizvollzugsanstalt Waldeck bei Rostock an. Dort wartete Walter, einer von meinen Jungs und Mädels – ein wegen eines Tötungsdelikts zu so genannter lebenslanger Haftstrafe Verurteilter – auf seine Entlassung in acht Wochen. Seit ein paar Monaten trafen wir uns zur Entlassungsvorbereitung im vierwöchigen Rhythmus und tasteten uns vorsichtig aneinander heran. Wie die meisten Langstrafer würde er, gerade auch weil er ungelernter Hilfsarbeiter war, nach seiner Entlassung zunächst wohnungs- und arbeitslos sein. An
Weitere Kostenlose Bücher