Wells, ich will dich nicht töten
mit mir unterhalten. Irgendwann würden wir sicher wieder miteinander reden – zuerst über bedeutungslose, alltägliche Dinge, dann über ernstere Themen, bis alles wieder so wäre wie früher.
Ich wartete drei Minuten vor ihrem Haus und rang mit mir, ob ich anklopfen sollte, aber das war dumm. Früher war sie immer von selbst herausgekommen. Es war dumm, dass ich überhaupt hier stand, das hatte ich schon vorher gewusst, aber irgendwie … nun ja, ich hatte gedacht, es sei einen Versuch wert. Schließlich machte ich mich allein auf den Weg.
Zwei Blocks weiter entdeckte ich Brooke. Sie stand an der Bushaltestelle und winkte nicht, und ich fuhr vorbei, ohne abzubremsen.
Eigentlich mochte ich die Schule nicht. Ich lernte zwar gern, brauchte dazu aber eine bestimmte Umgebung. Laute Klassenzimmer mit vergilbten Bodenfliesen, Leuchtstoffröhren und ein paar Hundert Schülern, die mich für einen Freak hielten, waren – kaum überraschend – nicht das Umfeld, in dem ich am liebsten lernte. Aber geben Sie mir eine gute Bibliothek, eine Internetanbindung und ein paar Bildungsprogramme im Fernsehen, und ich lerne stundenlang, soweit mich das Thema fesselt. Ich wage sogar zu behaupten, dass ich mehr über Serienmörder und Täterprofile gelernt hatte als die meisten anderen in der Stadt, was auch die FBI -Agenten einschloss, die zur Unterstützung geschickt worden waren und gegen den Handlanger ermittelten. Zugleich war ich aber auch Realist und betrachtete die förmliche Schulbildung als notwendiges Übel. Ich wollte später als amtlich zugelassener Bestatter arbeiten, und dazu musste ich das College besuchen. Dies wiederum setzte den Abschluss der Highschool voraus. Ließe ich zwei weitere Jahre die zerstörten Pulte, die Schülercliquen und die Atmosphäre in der Schule über mich ergehen, hätte ich es geschafft.
Ich stellte das Auto auf dem hinteren Parkplatz ab und ging zur Schule hinüber. Es war Ende August und immer noch warm, kühlte sich aber merklich ab. Zwischen einzelnen Schülergruppen flogen fröhliche Rufe hin und her, manche lehnten lässig an den Autos oder schlenderten zu den verschiedenen Eingängen. Unsere Schule hatte drei Gebäude – das Haupthaus, den Technikbau, mit dessen Technik trotz des Namens nicht viel los war, und die Sporthalle. Zwei Neuzugänge wanderten wie benommen und angstvoll umher, da nun ihr erster Tag auf der Highschool beginnen sollte. Wahrscheinlich konnte sie noch nicht einmal die Stundenpläne richtig lesen.
»Hallo, John.« Marci lehnte an einem Blumenkübel auf der Wiese. Ihre beste Freundin Rachel war bei ihr. »Wie läuft es denn so?«
Ich blieb stehen. Seit dem Fahrradausflug hatte ich nichts mehr von ihr gehört und angenommen, dass sie das Interesse verloren hatte. Doch nun sprach sie mich am ersten Schultag an und übersah alle anderen in ihrer Nähe.
»Nicht übel«, sagte ich. »Es geht doch nichts über einen ersten Schultag, wenn man morgens in die Gänge kommen will.«
»Bäh«, machte Marci. »Das ist wie ein Montag.«
»Heute ist Montag.«
»Nein, ich meine Montag, wenn die Welt untergeht«, erklärte Marci. »Es ist das übliche Gefühl – o nein, das Wochenende ist vorbei! Nur tausendfach verstärkt.« Sie lächelte boshaft. »Ich nehme Wetten an, wer als Erster schwänzt.«
»Beziehst du die ganze Schule mit ein?«, fragte ich. »Einige sind wahrscheinlich gar nicht erst angetreten.«
»Das habe ich ihr auch schon gesagt«, warf Rachel ein.
»Was hast du in der ersten Stunde?«, wollte Marci wissen.
Ich warf einen Blick auf den Stundenplan, obwohl ich ihn im Kopf hatte. »Sozialkunde bei Verner.«
Marci lächelte. »Schön, wir auch. Dies sind die Regeln: In der ersten Stunde siehst du dir alle genau an und suchst jemanden aus, und dann beobachten wir ihn den ganzen Tag über. Wer zuerst schwänzt, hat gewonnen.«
»Du meinst, gewonnen hat derjenige, der sich den ersten Schwänzer aussucht«, berichtigte Rachel.
»Da könnte man widersprechen«, meinte Marci und richtete sich auf. »Kommt, besetzen wir die hinteren Plätze! Dort können wir unsere Wettkämpfer am besten beobachten.«
Die Mädchen gingen zielstrebig zum nächsten Eingang des Hauptgebäudes, ich folgte mit gewissem Abstand. Abgesehen von Max, der aber kaum zählte, hatte ich noch nie zusammen mit jemandem die Schule betreten. Max war nur deshalb mein Freund, weil ich sonst niemanden hatte, und ich war aus dem gleichen Grund sein Freund. Ich hatte ihn seit Wochen nicht
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