Wells, ich will dich nicht töten
wieder zum Leben, sie schob ihn über das Gras und schnitt eine lange gerade Bahn heraus. Sie war ganz anders als Marci – größer und schmaler, nicht so kurvig, sondern … gertenschlank? Was für ein dummes Wort. Brooke war elegant, anmutig und recht groß. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihr über die Schulter herabhing. Sie bewegte sich zielstrebig und geschmeidig.
Am Rand der Wiese machte sie kehrt und näherte sich mir wieder, als sie die nächste Bahn schnitt. Ich rutschte hinter dem Lenkrad nach unten, damit sie mich nicht bemerkte, doch sie konzentrierte sich sowieso nur auf den Rasen. Als sie abermals umwandte, stieg ich aus und schlenderte zu ihr hinüber. In der Einfahrt blieb ich stehen. Sie erreichte das hintere Ende der Wiese und drehte den Rasenmäher herum. Jetzt sah sie mich und hielt kurz inne, dann stellte sie den Motor ab und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren.
»Hallo, John.«
»Hallo.«
Wir schwiegen uns an. So vieles hätte ich ihr gern gesagt, brachte es aber nicht über die Lippen. Es lag nicht daran, dass mir die Worte fehlten, sondern es wäre einfach nicht angemessen gewesen. Ich hätte höchstens eine Reihe sinnloser Wörter ausstoßen können: Essen Schuhe Haus, ich nicht Fußboden Besitz. Überall. Himmel. Die Sprache ließ nicht nur mich, sondern die ganze Welt im Stich, von jetzt bis zum Ende aller Zeiten.
Wie konnte überhaupt noch ein Mensch mit einem anderen sprechen?
Sie konnte es. »Wie geht’s dir?«
»Gut.«
Wieder schwiegen wir.
Sie bückte sich und wollte das Starterseil ergreifen, doch ich hielt sie auf.
»Meinst du …« Ich wusste nicht weiter.
»John«, antwortete sie, »was ich gesagt habe, tut mir leid, aber es stimmt immer noch. Du bist … ach, ich weiß auch nicht.« Sie seufzte. »Wir haben ja schon darüber gesprochen. Ich kann es einfach nicht vergessen. Wenn ich dir in die Augen sehe, dann erkenne ich die Person nicht mehr, die ich früher dort gesehen habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was ich dort entdeckt habe, aber es war mehr, als ich verkraften konnte.« Sie wollte an der Schnur ziehen, und wieder hielt ich sie auf.
»Warte.«
Sie schloss die Augen. »Hat sich Marci mit dir verabredet?«
Ich nickte. »Woher weißt du das?«
»Sie hat mich gefragt, ob ich etwas dagegen habe. Als ob ich da irgendetwas einzuwenden hätte. Du bist doch nicht mein … ich weiß auch nicht. Wir hatten ja nur zwei Dates.«
»Hast du ihr etwa geraten, mich anzusprechen?«
Sie ließ das Starterseil los und richtete sich auf. »Ich habe ihr nicht geraten, es bleiben zu lassen.«
»Ich dachte, du hast Angst vor mir. Hast du sie nicht vor mir gewarnt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Denk nicht, dass ich dich hasse, John. Du bist ein guter Freund. Du hast mir das Leben gerettet, vielleicht sogar mehr als einmal. Aber jedes Mal, wenn ich dich sehe, sehe ich auch ihn und den Rauch und die Art und Weise, wie du …« Sie unterbrach sich, die Stimme versagte ihr, und sie war den Tränen nahe. Sie hielt den Kopf gesenkt und wich meinem Blick aus. »Ich erinnere mich, wie du mich angesehen hast, als du ihn um das Messer gebeten hast. Ich habe keine Angst mehr, aber ich …« Jetzt blickte sie zum Himmel hinauf. »Ich weiß es auch nicht. Ich glaube, ich habe hinter deinem Gesicht einen anderen Menschen entdeckt, als hättest du eine Maske abgenommen. Du warst es, aber irgendwie warst du es auch nicht mehr. Ich glaube nicht, dass diese andere Person mir oder Marci oder sonst jemandem etwas antut, aber … ich weiß nichts über diesen anderen Menschen. Rein gar nichts. Das macht mir mehr Angst als alles andere … dass es in dir zwei Menschen gibt, die sich so sehr voneinander unterscheiden, und einer von ihnen lebt im Verborgenen.«
Ich betrachtete sie – die hellblauen Augen, klarer als der Himmel, feucht von Tränen wie Regentropfen. Ich wollte die Tränen wegwischen, ich wollte weglaufen, wollte sie festhalten und schlagen und kreischen und verschwinden. Ich wollte zu einer Schlammpfütze zerschmelzen wie Crowley und Forman – mich einfach auflösen und spurlos verschwinden. Ich wollte alles abstreiten und ihr sagen, sie sei verrückt, mich so normal wie möglich verhalten und sie überzeugen, dass ich genau wie alle anderen war. Ich hätte im Auto sitzen bleiben sollen. Ich hätte daheim bleiben sollen.
Sie bückte sich wieder zum Starterseil, und im gleichen Moment ging ich einen
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