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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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für die meisten der einzige Kontakt mit dem Tod ist. Sie können nicht damit umgehen. Schweigend stehen sie da, äußern sich vielleicht dazu, wie friedlich der Tote doch aussehe und wie ähnlich er dem Lebenden immer noch sei. Das ist natürlich nicht wahr, es besteht überhaupt keine Ähnlichkeit mehr, und die Person, die der Betreffende früher einmal war, ist unwiederbringlich verschwunden. Was da im Anzug steckt und im Sarg liegt, ist im Grunde austauschbar. Es könnte ein Fremder oder ein Baumstamm sein. Irgendwann wird er genau das auch sein. Die Freunde und Angehörigen starren betroffen und fragen sich, warum ihnen der Anblick dieser leblosen Gestalt keinen Trost spendet, und dann schlendern sie davon und reden darüber, wie lange es schon her ist, wie es damals in ihrer Kindheit war, und was sagen Sie eigentlich zu meinen neuen Schuhen?
    Meine Aufgabe bestand darin, den Gästen am Eingang Programmhefte auszuhändigen und ihnen gelegentlich den Weg zu den Toiletten zu erklären. Ich versuchte mich eine Weile als Informationsschalter, ehrerbietig und froh, von Nutzen zu sein. Irgendwann legte ich die Programmhefte auf einen Stuhl und verzog mich ins Büro, um die ernste Menschenansammlung durch einen Türspalt hindurch zu beobachten. Irgendjemand schaffte es trotzdem noch, mich zu finden und nach der Toilette zu fragen. Ich zeigte ihm den Weg und drückte die Tür ganz zu.
    Um 18 . 00 Uhr endete die Aufbahrung, und ich ging wieder hinaus, um die Besucher in die Kapelle zu scheuchen, wo die Zeremonie stattfinden sollte. Gewöhnlich schob ich den Sarg aus dem Vorraum auf den Ehrenplatz vor dem Podium, doch heute Abend übernahm die Polizei diese Aufgabe. Sheriff Meier und Officer Jensen führten in makellosen Ausgehuniformen eine lange Prozession von Angehörigen an, die dem toten Bürgermeister folgten. Ich sah von hinten zu. Auf der anderen Seite saß Marci allein und beobachtete die Trauergemeinde mit verhangenen Blicken.
    Auf einmal stand Mom neben mir. »Wo hast du gesteckt?«, flüsterte sie.
    »Oben«, log ich.
    »Ich habe oben nachgesehen.«
    »Draußen.«
    »Ich erwarte deine Hilfe, John«, sagte sie. »Dies ist unsere Arbeit, damit können wir unsere Rechnungen bezahlen. Und deshalb müssen wir jeden Auftrag ordentlich erledigen.«
    »Haben alle ein Programm?«, fragte ich.
    »Darum geht es doch nicht …«
    »Jeder hat ein Programm, also habe ich meinen Auftrag ordentlich erledigt.«
    Mom funkelte mich an, doch die Angehörigen saßen schon fast alle, und sie musste mit der Zeremonie beginnen. So ließ sie mich stehen und schritt nach vorn. Unterwegs setzte sie die geübte, höfliche Bestattermiene auf: verständnisvoll und erfahren, ernst und ruhig. Als ich gerade gehen wollte, flüsterte jemand hinter mir.
    »Weißt du, wohin wir uns verdrücken können?«
    Es war Marci. Sie trug ein eng anliegendes Kleid und Pumps, mit denen sie fast so groß war wie ich.
    »Ich hasse Beerdigungen«, sagte sie. »Ich bin nur wegen Dad mitgegangen, aber jetzt sitzt er neben Meier ganz vorn.«
    »Komm mit!«, antwortete ich ebenso leise und führte sie durch den Flur zum Büro. Wenn Mom mich vorher dort nicht gefunden hatte, war es vermutlich immer noch das beste Versteck im ganzen Haus. »Da rein.« Ich hielt ihr die Tür auf, folgte ihr nach drinnen und überließ ihr den guten Stuhl hinter dem Schreibtisch. Dann schloss ich die Tür und setzte mich ihr gegenüber.
    »So.« Sie sah sich um. »Hier arbeitest du also.«
    »Ja. Eigentlich bin ich nur selten im Büro. Vor allem arbeite ich hinten. Ich putze Toiletten und sauge die Räume aus. Nebenbei balsamiere ich eine Menge Bürgermeister ein.«
    »Bäh«, machte sie. »Es reicht, die Leichen in den Nachrichten zu sehen, aber direkt danebenzustehen und sie anzufassen, das wäre nichts für mich.«
    »Wir haben eine Woche«, sagte ich.
    »Behaltet ihr die Toten eine ganze Woche lang hier?«
    »Nein, ich meine, uns bleibt noch eine Woche, bevor der nächste Mord geschieht. Die anderen Angriffe kamen im Abstand von jeweils zwei Wochen. Einer am Sonntag, der folgende am Montag. Mord Nummer drei wird also heute in einer Woche begangen, wenn es beim gleichen Ablauf bleibt. Wir haben eine Woche, um alles aufzudecken.«
    Marci schnitt eine Grimasse. »Was denn, nur wir zwei? Wir wissen doch überhaupt nichts. Jedenfalls nichts Wichtiges.«
    »Was ist mit der Tasche und dem Beil? Darauf sind wir ganz allein gekommen.«
    »Die Polizei wusste es auch schon«, widersprach

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