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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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beschwichtigend die Hände. »Warten wir, bis wir mehr anzubieten haben. Es wäre ein Fehler, zu früh loszuschlagen, wenn wir so dicht davor sind.«
    Marci war noch nicht ganz überzeugt. »Was meinst du denn, wie nahe wir der Täterin sind?«
    »Sehr nahe. Vielleicht nahe genug, um das nächste Opfer vorauszusagen.«
    »Und wenn wir es wissen, können wir das Opfer warnen.« Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Marci.
     

NEUN
     
    In jener Woche fuhr ich jeden Tag zu Marci, entwickelte mit ihr zusammen Theorien und ging alle Hinweise durch, an die wir uns erinnerten. Zuerst saßen wir in der Küche, doch Marci wurde nervös, weil die kleinen Geschwister ständig um uns herum waren, und so verlagerten wir unsere Gespräche über Serienmörder und zerstückelte Leichen nach draußen.
    »Was ist mit den Pfählen?«, fragte Marci. »Die müssen doch eine Bedeutung haben.« Es war Sonnabend, und wir waren der Antwort keinen Schritt näher gekommen.
    »Das ist eine Botschaft, der wir leider nicht viel entnehmen können«, erwiderte ich. »Wenn ein Serienkiller solche Botschaften hinterlässt, dann bedeuten sie meist nicht mehr als Hallo, ich bin hier, und ihr könnt mich nicht erwischen .«
    »Vielleicht will der Killer oder die Killerin nur wahrgenommen werden«, meinte Marci. »Und der Wunsch, Aufsehen zu erregen, ist doch immerhin ein guter Hinweis, oder?«
    »Unbedingt«, stimmte ich zu. Ich wusste nicht, ob Marci ein Naturtalent in Psychologie war oder ob es nur daran lag, dass sie im Gegensatz zu mir nicht soziopathisch war – auf jeden Fall war sie wirklich gut. Soziopathie wird als Mangel an Empathie definiert. Wir können uns mit anderen Menschen nicht identifizieren und verstehen sie somit auch nicht. Marci litt nicht an dieser Beschränkung und stieß deshalb auf Verbindungen, die ich nie entdeckt hätte.
    »Die Pfähle sind wie Fahnenmasten«, dachte sie laut nach. »Damit die Leute den Toten sehen. Beim Bürgermeister war ja tatsächlich ein echter Fahnenmast dabei.«
    »Die Flagge war allerdings abgerissen«, wandte ich ein. »Wenn es Fahnenmasten sein sollen, wäre es doch sinnlos, die Flagge abzureißen.«
    »Es war eine amerikanische Flagge. Vielleicht hasst sie Amerika. Oder sie liebt Amerika und will nicht, dass die Flagge mit dem Mord in Verbindung gebracht wird.«
    »Serienkiller begehen keine Morde«, erwiderte ich. Es rutschte mir heraus, ehe ich mich besinnen konnte. Darüber ärgerte ich mich immer wieder, und Marcis entsetztes Gesicht verriet mir sofort, dass sie mich falsch verstanden hatte. »Ich meine, natürlich sind es Morde, aber es sind nicht einfach nur Morde wie alle anderen. Das ist genauso, als würde man sagen, das Hacken von Computern sei einfach nur ein Diebstahl. Das ist es zwar auch, aber es gibt dabei ganz eigene Motivationen und Methoden, die es von allen anderen Diebstählen unterscheidet, und deshalb muss man es auch anders betrachten.«
    »Ich finde, das ist eine komische Unterscheidung«, erwiderte Marci. »Mord ist Mord, und fertig.«
    »Das schon«, wiederholte ich, »aber es ist eine ganz bestimmte Art von Mord, die man anders betrachten muss.« Immer noch musterte sie mich misstrauisch, also wechselte ich lieber das Thema. »Hör mal, das spielt eigentlich auch keine Rolle. Lass uns lieber über die Flagge reden. Du meinst, die Mörderin liebt Amerika und will nicht, dass das Land mit dem … mit dem Töten in Verbindung gebracht wird.«
    Marci betrachtete mich einen Moment lang schweigend, ehe sie wieder etwas sagte. »Es könnte ein Protest gegen den Krieg sein.«
    »Wäre das Clayton County nicht ein merkwürdiger Schauplatz für einen Protest gegen den Krieg?«
    »Ich weiß, ich denke ja nur laut. Die Pfähle wirken aber wie Fahnenmasten, und ich überlege mir gerade, warum sie die echte Flagge abgerissen hat. Womöglich ging es ihr wirklich nur um die Stangen – sie will nicht, dass etwas dranhängt und von den nackten Pfählen ablenkt.«
    »Das glaube ich nicht.« Mir war die Reportage in den Nachrichten eingefallen. »Als der Bürgermeister tot war, hat sie Plastikplanen auf die Pfähle gehängt. Als hätte sie eigene Flaggen angefertigt.«
    »Haben die an irgendetwas erinnert?«
    »Eigentlich haben sie an Flügel erinnert. Doch es war ein Fahnenmast, auf den sie ihre eigene Flagge gehängt hat.«
    »Dann ersetzt sie Amerika.«
    »Oder sie entfernt es.«
    »Wie meinst du das?«
    »Vielleicht nicht vollständig, aber wenigstens vom Tatort. Wie wäre es

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