Wells, ich will dich nicht töten
schweigend nach. Wollte sie sich nun doch nicht auf den Fall einlassen? Sie war aus einem ganz anderen Grund hier, und wahrscheinlich hätte sie lieber über andere Themen geredet. Ich überlegte, was ich sagen sollte, um in ihr die Begeisterung zu wecken, die sie am Vortag gezeigt hatte, doch auf einmal sprach sie weiter. »Glaubst du, die Opfer sehen sie, bevor sie angreift?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Schon möglich.« Ebenso möglich ist es, dass sie sich unsichtbar macht oder die Gestalt verändert, dachte ich. Oder sie verfügt über irgendeine andere übernatürliche Fähigkeit, mit der sie ihre Opfer täuscht. Es war schwierig, das Täterprofil einer Dämonin zu erstellen.
»Mir fällt gerade etwas ein«, sagte Marci. »Einmal hat mich ein Typ besucht, der wegen irgendetwas wütend war. Das ist eine dieser unangenehmen Dating-Geschichten, tut mir leid. Jedenfalls war er so wütend, dass ich gar nicht mehr mit ihm ausgegangen bin. Ich hatte Angst vor ihm und habe die Sache gleich auf der Veranda abgeblasen.«
»Dadurch ist er vermutlich noch wütender geworden«, entgegnete ich.
»Klar«, bestätigte Marci. »Aber Dads Streifenwagen stand ein paar Schritte entfernt. Also konnte er nicht ausrasten und hat sich einfach verzogen. Ich will auf Folgendes hinaus: Wenn jemand auf die Opfer zugeht und ihnen zeigt, dass er wütend genug ist, um siebenunddreißigmal auf sie einzustechen, dann rennen sie schreiend weg. Das hat aber keins der Opfer getan.«
»Du hast recht.« Ich ging in Gedanken die Nachrichtensendungen durch. »Niemand hat Schreie gehört, es gab keine Kampfspuren, und die Toten zeigten keine Wunden, die auf Gegenwehr hingewiesen hätten. Wie auch immer die Mörderin aussieht, sie wirkt nicht bedrohlich.«
»Oder wütend«, ergänzte Marci.
»Vielleicht ist sie auch nicht wütend«, überlegte ich weiter. »Möglicherweise deuten wir die Stichwunden falsch.«
»Hast du eine Ahnung, was es sonst sein könnte?«
»Wie wäre es mit einer Botschaft?«, entgegnete ich. »Sie lässt die Toten draußen liegen, wo jeder sie sehen kann, und damit will sie uns offensichtlich etwas sagen. Vielleicht sind die Stichwunden Teil dieser Botschaft.«
»Andererseits waren die Verletzungen bedeckt.« Marci beugte sich vor, die Begeisterung war wieder erwacht. »Du hast gesagt, die Stichwunden seien unter dem Hemd verborgen gewesen. Als ausgebildete Hauswirtschafterin versichere ich dir, dass siebenunddreißig Stichwunden ein Hemd völlig zerfetzt hätten. Darunter kann man nichts mehr verbergen. Die Frau hat den Opfern also die Hemden ausgezogen, wie besessen zugestochen und ihnen die Hemden wieder angezogen.«
»Demnach will sie die Stichwunden eher verbergen als vorzeigen.«
»Na schön«, fasste Marci zusammen. »Wir haben es mit einer Mörderin zu tun, die ruhig beginnt und dann wütend wird. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was die Opfer getan haben, um sie so wütend zu machen. Wahrscheinlich war es etwas ganz Simples, nachdem beide Getöteten es offenbar getan haben.«
Als ich diese Bemerkung hörte, fand ein weiteres Puzzleteil seinen Platz an der richtigen Stelle. Auf einmal war es glasklar. Ich blickte Marci an. »Die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Situationen ist sie selbst. Die Mörderin macht sich selbst wütend.« Forman hatte gesagt, Dämonen würden durch das bestimmt, was ihnen fehlte. Sie tötete, weil sie eine Leere zu füllen versuchte, sei es im Kopf oder im Herzen, und irgendwie machte sie diese Leere wütend.
»Warum macht sie sich selbst wütend?«
»Sie tut es nicht absichtlich«, erklärte ich. »Das ist nur der Nebeneffekt von etwas anderem. Sie ist ruhig, dann tötet sie, und dann rastet sie aus.«
»Und anschließend versucht sie, es mit einem Hemd zu verdecken.« Marci nickte nachdrücklich. »Das haut hin. Aber was hat es zu bedeuten?«
»Es bedeutet, dass sie nicht töten will«, fuhr ich fort. »Wahrscheinlich verabscheut sie es sogar, aber sie kann nicht damit aufhören. Sie nimmt sich vor, es nie wieder zu tun, und dann tut sie es doch und dreht dabei durch.«
»Das ist …« Marci schnitt eine Grimasse. »Das ist wirklich übel.«
»Es ist auch cool, weil das ein Detail ist, das die Polizei noch nicht kennt«, sagte ich.
»Ich sag’s meinem Dad gleich nach der Beerdigung.«
»Nein«, widersprach ich. »Noch nicht. Es ist ein wichtiges Detail, das uns aber im Augenblick kaum weiterhilft.« Damit war sie offenbar nicht einverstanden. Ich hob
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